Veröffentlicht: 11.07.2019
Don Curry liebt ungewöhnliche Fortbewegungsmittel. Er hat auf seinen Reisen schon eine ganze Reihe erlebt - vom Elefantenritt in Kambodscha über die Fahrt im Ochsenkarren in Indien bis zur Tarabita, einer winzigen Seilbahn in Ecuador. Auch Wasserfahrzeuge kennt er viele: den urtümlichen Mokoro-Einbaum in Botswana, diverse Ruder-, Schlauch- und Motorboote, und natürlich Fähren aller Art. Eine ganz andere Form des Wassertransports bot sich ihm heute: ein Tragflügelboot, ein Schiff, das nicht im Wasser schwimmt, sondern gewissermaßen über das Wasser gleitet. Mit solch einem Tragflügelboot wollte er heute zur berühmten Kischi-Insel abheben.
Zunächst erwartete ihn allerdings das Frühstücksbuffet im Restaurant "Karelia" des Hotels "Karelia". Das Frühstücksbuffet in Pskow war exzellent gewesen, das in Welikij Nowgorod exzellenter, das hiesige in Petrosawodsk erreichte aber nochmals eine Steigerungsstufe. In dem riesigen Frühstückssaal verbrauchte man beim Herbeiholen der diversen Köstlichkeiten an weit voneinander entfernten Stationen fast mehr Kalorien, als man anschließend zu sich nehmen konnte - auch wenn die Auswahl an Kalorienträgern grandios war. Von einer ausgedehnten Müsliabteilung über zehn verschiedene warme Optionen, einem umfangreichen Salatbuffet bis zu einer üppigen Getränkeauswahl: neben den üblichen Säften auch den typisch nordischen Preisselbeersaft, und selbst Sekt stand zur Selbstbedienung jederzeit bereit. Don Curry hatte für diese vielfältigen Genüsse viel zu wenig Zeit, weil er um 9:00 Uhr an der Rezeption sein Bootsticket nach Kischi erwerben sollte.
Die Rezeption verwies ihn allerdings an die Tourismusabteilung des Hotels, die außerhalb im Untergeschoss residiert. Don Curry fand das unscheinbare Büro, meldete den Wunsch nach einer heutigen Kischi-Fahrt, bekam nach einigem Suchen im Computer Plätze zu seinen Wunschzeiten zugesagt und erhielt den Hinweis, er könne das Ticket in 20 Minuten bei der Rezeption bezahlen und abholen - übrigens mit 20% Ermäßigung, weil das Tragflügelboot dem Hotel gehöre.
Pünktlich holte Don Curry sein Ticket ab, wanderte durch das bereits bekannte Birkenwäldchen und wartete mit vielen anderen am Bootsanleger. Vor Betreten des Bootes bekam jeder Mitreisende ein Halsband mit einem großen Schild umgehängt, das den Namen des Bootes und eine individuelle Nummer zeigte. Zur Identifizierung, falls das Schiff sinkt?, dachte Don Curry sarkastisch. Doch die Umhängeschilder dienten noch einem anderen Zweck, genau deswegen wurde Don Curry auch gefragt, wie sich sein Name denn aussprechen würde. Don Curry sprach es dem Bootsbegleiter vor und der notierte es sich.
Die Fahrt selbst dauerte gut 90 Minuten. Don Curry hatte sich extra einen Fensterplatz gesichert, doch bereits nach wenigen Minuten beschlugen die Fenster aufgrund des randvoll besetzen Innenraums so sehr, dass es keine Sicht nach draußen mehr gab. So döste Don Curry einfach vor sich hin.
Nach der Landung trat der namensfragende Bootsbegleiter von vorhin mit einem großen Schild auf, das den Namen des Bootes präsentierte. Die Aufforderung war klar: alle rund 80 Mitfahrenden dieses Bootes sollten ihm folgen. Es ging direkt zum Kischi-Freilichtmuseum, dessen Eintrittsgebühr im Bootspreis bereits enthalten war. Hier rief der Bootsbegleiter nacheinander alle Namen der Mitreisenden auf, um auf diese Weise drei Gruppen zu bilden, denen sich jeweils eine russische Führerin zugesellte. Auch Don Currys Name wurde nahezu perfekt ausgesprochen! Erst später erfuhr Don Curry, dass er sich gegen Aufpreis auch einer deutschen Führung hätte anschließen können. So musste er sich aufs Schauen beschränken und war immer wieder zu Zwangspausen verurteilt, während die informierte Frau anscheinend wichtige Informationen an ihr verständiges Publikum weitergab.
Das Wetter zeigte sich heute sehr launisch. Immer wieder wechselten sich kurze Regenschauer und kurze Sonnenphasen ab. Bei Regen stellte sich die Gruppe meist irgendwo unter. Das erste Ziel der Führung war gleich der eigentliche Höhepunkt: das unvergleichliche Ensemble der Verklärungskirche, bestehend aus Sommerkirche, Winterkirche und Glockenturm.
Die Sommerkirche aus dem Jahr 1714 mit ihren 22 Holzkuppeln ist sicherlich die berühmteste russische Holzkirche überhaupt. Seit vielen Jahren dauert bereits die Restauration an; äußerlich ist sie weitgehend abgeschlossen, so dass die Kirche wieder fotogen wirkt, der Innenraum ist aber nicht betretbar. Die beheizbare Winterkirche aus dem Jahr 1764 enthält dafür nicht nur eine prächtige Ikonostase aus ihrer Entstehungszeit, sondern auch mehrere alte Ikonen aus anderen Holzkirchen, die nicht mehr existieren.
Der besondere Vorteil der Gruppenführung lag in kleinen Darbietungen: In der Winterkirche sangen drei junge Popen mit fantastischen Stimmen ein dreistimmiges orthodoxes Kirchenlied. in einem Wohnhaus nebenan zeigte und erklärte eine junge Frau, wie man aus Pferdehaaren mithilfe einer Handspindel einen fortlaufenden Faden erstellt.
Bei einer anderen Holzkirche präsentierte ein Glöckner mit seinen verschieden Kirchenglocken eine eindrucksvolle Melodie.
All das wäre Don Curry ohne Gruppe sicherlich entgangen - daher nahm er das langsame Vorankommen zunächst in Kauf. Doch als er merkte, dass sich nach und nach immer mehr Gruppenmitglieder einfach absetzten, wurde auch er fahnenflüchtig und durchstreifte das Gelände des Freilichtmuseums auf eigene Faust.
Schließlich hatte er alles Wesentliche gesehen und beschloss, auch noch in den belebten nördlichen Teil der Insel Kischi vorzudringen. Auch hier muss alles aus Holz erbaut sein. Don Curry strebte dem höchsten Punkt der Insel zu, der ebenfalls von einer kleinen Holzkirche gekrönt ist. Die Kirche zeigte sich leider verschlossen, doch der Ausblick in alle Richtungen konnte nur als grandios bezeichnet werden.
Allmählich setzte wieder Regen ein, und Don Curry kehrte eilig zum Schiffsanleger zurück.
Für die Rückfahrt hatte er diesmal einen Platz am Gang gewählt, um während des Gleitens über den Onega-See problemlos Zugang zu dem offenen Deck zu haben. Doch diese Freude währte nur kurz, bis ein kräftiger Schwall Gischt Don Curry beim Fotografieren frontal traf, ihn ziemlich durchnässte und seine Kamera vorübergehend außer Gefecht setzte.
Zurück in Petrosawodsk streifte Don Curry noch etwas die Uferpromenade entlang. Hier hatte die Stadt nicht nur viele Kunstwerke aufstellen lassen, Don Curry fand auch einen kostenlosen Fitnesspark mit Dutzenden Geräten zum Gewichtheben, Laufen und anderen Übungen. Vorbildlich!, fand er, wenn auch nicht für ihn gemacht.
Er holte sich seine Fitness lieber im Hotelrestaurant. Als Vorspeise hatte er diesmal "Elch-Hufe" bestellt, das sind mit Elchhack gefüllte Kartoffelpuffer, serviert mit Sour Creme; den Hauptgang sollten drei auf Holzkohle gegrillte Spieße von Forelle, Huhn und Rind sein mit diversen Saucen vom Chef, dazu frittierte Kartoffelbällchen. Erstaunlicherweise wurden die Bällchen zuerst gebracht, dann die Spieße und deutlich später die Elchpuffer. Das sollte Don Curry noch häufiger erleben, dass Vor- und Hauptspeise in Russland kein Nacheinander bedeuten müssen; was fertig ist, wird dem Gast serviert!
Don Curry war's egal. Er aß, bis er mehr als satt war, genoss noch lange den wundervollen Onega-Blick von seinem hohen Balkon und dachte an diesen Tag zurück: Nicht nur das Boot hatte Flügel gehabt, auch die herrliche Architektur der alten Holzkirchen, die ur-russische Idylle der Kischi-Insel und das insgesamt so entspannt-problemlose Tagesprogramm hatten auch Don Curry Flügel verliehen. Eigentlich hätte er abheben können nach so einem himmlischen Tag...