Veröffentlicht: 14.07.2019
Don Curry liebt den Sommer. Er liebt es warm, er liebt es sonnig, er liebt es hell. Zu keiner Jahreszeit sind all diese Kriterien so häufig miteinander vereint wie im Sommer. Darum ist er auch gern im Sommer auf Reisen, weil diese Jahreszeit in den meisten Ländern der Erde die schönste Zeit ist.
Auch in Russland hatte er mit gutem, sommerlichem Wetter gerechnet, und war bisher nicht enttäuscht worden, Klar, es hatte gelegentlich Regenschauer gegeben: in Weliky Nowgorod etwa oder auf Kischi, aber zwischendurch hatte sich stets die Sonne durchgesetzt.
Heute wollte Don Curry sein nördlichstes Ziel ansteuern, sogar noch etwas nördlicher als Rabocheostrowsk, wo seine Unterkunft stand. Er hatte schon vor Monaten einen Bootstour auf die Solowetzky-Inseln gebucht, Hin- und Rückfahrt am selben Tag. Um 8:00 Uhr würde das Schiff ablegen.
Überpünktlich stand Don Curry am Bootsanleger, nur 300 m von seiner Unterkunft entfernt. Der bleigraue Himmel machte ihm etwas Sorgen, aber auf Inseln kann das Wetter völlig anders sein. So vertraute sich Don Curry zuversichtlich der ausgebuchten „Metel-4“ an, die ihn in 2 Stunden zur Hauptinsel Bolschoj Solowetzky bringen sollte. Deutlich war zu spüren, dass dies kein Tragflügelboot ist, das elegant über die Wellen gleitet. Dieses Schiff nahm jede Welle mit und wogte kräftig seitlich mit. Don Curry machte der eisige Wind viel mehr zu schaffen, der über das Meer fegte, und den er deutlich spürte, als er ein paar Minuten auf Vorderdeck verbrachte.
Es regnete, als die „Metel-4“ gegen 10:00 Uhr am Bootsanleger der Hauptinsel festmachte, durchaus kein starker Regen wie aus Eimern, sondern eher kräftiger Nieselregen, aber beständig. Don Curry erkannte mit Unbehagen, dass der Bootsanleger nicht direkt am Kloster liegt, sondern rund 1 km nördlich davon. Also war Wandern angesagt, bei Regen, ungeschützt. Nach 500 m erblickte Don Curry einen kleinen Laden am Wegesrand, und direkt an der Eingangstür hatte die kluge Besitzerin ein Regencape ausgehängt – mit großem Preisschild: 150 Rubel (ca. 2 €). Diesem Angebot konnte Don Curry nicht widerstehen. Er wählte ein Cape in blauer Farbe, nahm es zunächst einfach mit, weil vor dem Laden sich die nächsten Kunden drängten, und ging immer mehr triefend zum Hauptportal des Klosters. Hier im überdachten Bereich konnte er endlich in Ruhe den Regenschutz anlegen.
Es regnete weiterhin, als Don Curry das Kloster betrat und sich im großen Innenhof zunächst orientieren wollte. Das erwies sich als gar nicht einfach, weil das Kloster im inneren Bereich in seiner Gesamtheit zur Baustelle geworden war. Vereinzelt waren Gerüste aufgebaut, Bauschutt lag an verschiedensten Stellen, manches war abgesperrt, manches wirkte arg provisorisch. Und es gab nirgends hilfreiche Schilder. Also nahm Don Curry einfach eine der Treppen ins Obergeschoss und stand plötzlich im riesigen Refektorium des Klosters. Der gewaltige Raum wurde von einem mehr als gewaltigen Mittelpfeiler getragen. Don Curry schätze seinen Durchmesser auf 6 bis 8 Meter. So einen Pfeiler hatte er noch nirgendwo gesehen.
Da hier ausreichend Sitzbänke vorhanden waren, nahm sich Don Curry Zeit, um im „Lonely Planet“-Reiseführer Informationen über das Kloster zu bekommen. Dort stand, dass direkt am Refektorium die Empfängnis-Kapelle liegt und alle anderen Bereiche über Gänge erreichbar sind. Die Kapelle befindet sich tatsächlich direkt neben dem Refektorium, war aber zur Zeit Baustelle und fast völlig leer. Die weiterführenden Gängen waren ebenfalls von Baumaßnahmen betroffen und gesperrt. Don Curry musste diesen Bereich über die Treppe wieder verlassen.
Es regnete, als Don Curry abermals den Innenhof des Klosters betrat. In einem Nebenbereich des Hofes, der eher wie eine Abstellfläche für Baumaterialien wirkte, entdeckte er plötzlich eine Reihe prächtiger Gräber, sicherlich Mönchsgräber. Von hier führte eine Treppe wieder ins Obergeschoss. Dort fand Don Curry endlich die Hauptkirche des Klosters. Auch sie war Baustelle, nur die gewaltige Ikonostase war in der sonst völlig entleerten Kirche belassen worden. Daneben diente ein weiter Raum als derzeitiger Kirchenbereich mit Ikonostase und unzähligen Ikonen und Kerzenständern. Hier schlug offenbar zur Zeit das spirituell-liturgische Herz des Solowetzky-Klosters.
Es regnete, sogar stärker als vorher, als Don Curry diesen Bereich des Klosters verließ. Bevor er weitere Teile des Klosters erkunden würde, wollte er sich bei der Touristen-Information erkundigen, ob heute noch eine Tour nach Bolschoj Zayatski geplant ist, eine der interessantesten Nebeninseln. Die Informationsstelle liegt in unmittelbarer Nähe zum Kloster. Die dortige Mitarbeiterin verstand zwar etwas Englisch, sprach es aber nicht. Trotzdem konnte Don Curry in Erfahrung bringen, dass es tatsächlich um 14:00 Uhr eine Bootstour zur Großen Zayatsky-Insel geben würde. Eine Viertelstunde vorher sollte er zur Touristen-Information zurückkehren.
Es regnete, als Don Curry das Gebäude verließ, und es schien immer kälter zu werden. Da es heute morgen kein Frühstück gegeben hatte, forderte Don Currys Magen inzwischen vernehmlich ein Mittagessen. Don Curry stapfte unter dem unnachgiebig grauen Regenhimmel zum Zentrum des Solowetzky-Dorfes. Hier gab es mehrere Hotels und Unterkünfte, teils mit Restaurants. In einem von ihnen bestellte Don Curry bei der jungen Bedienung eine Fischsuppe „Solowetzky“ und den berühmten „Herring“ von Solowetzky. Beim „Herring“ machte die Bedienung einen klaren Laut des Verneinens. Also wählte Don Curry Heilbutt, was ihre Zustimmung fand. Als er als Beilage Pommes frites ordern wollte, kam wieder der verneinende Laut; daher wich Don Curry auf Bratkartoffeln aus, was wieder zum verneinenden Laut führte. „Vegetables“ soufflierte die Bedienung hilfreich im Flüsterton, und als Don Curry nun „Vegetables“ wollte, gab sie einen Laut der Zustimmung von sich. Beim Bier hatte er die Wahl zwischen Carlsberg und Holsten, beides aus der Flasche. Das Essen kam nach angemessener Zeit, war aber in keiner Hinsicht bemerkenswert – weder irgendwie positiv noch erschreckend negativ: es erfüllte seinen Zweck.
Es regnete nicht, als Don Curry das Restaurant verließ. Es kam sogar kurz die Sonne durch. Don Curry nutzte diese 10 Minuten für ausreichend Fotos, ging zur Touristen-Information, bezahlte seine Bootsfahrt nach Bolschoj Zayatski und wartete mit vielen anderen. Pünktlich um 14:00 Uhr führte die Tourismusbeauftragte die große Schar der Tour-Bucher zum Bootsanleger direkt am Kloster, wo ein Zwillingsschiff der „Metel-4“ wartete, die „Alexander Schabalin“, benannt nach einem Konteradmiral aus dem 2. Weltkrieg. Immerhin 45 Minuten brauchte das fast vollbesetzte Schiff, um die viertgrößte der Solowetzky-Inseln zu erreichen.
Es regnete in Strömen, als die Tour-Bucher-Schar mit Don Curry das stolze Schiff verließ. Schnell sollten zwei Tourgruppen gebildet werden, Don Curry ordnete sich spontan einem rothaarigen Russen mit langer Pferdeschwanzfrisur zu. Der wusste viel zu erzählen, wirklich viel – in ausgezeichnetem Russisch. Don Curry stand im Regen, als diese extremen Unverständlichkeiten auf ihn niederprasselten. Sicherlich war es interessant, was der junge Mann zu erklären hatte, doch Don Curry blieben nur die optischen Eindrücke. Er sah zunächst eine Insel mit typisch subarktischer Vegetation: ganz viel Moos, ganz viel Flechten, ein paar Blumen und ein paar krüppelig gewachsene Birken. Dazwischen überall kleine und große Felsen, die der Insel einen besonderen Charakter gaben. Das eigentlich Ungewöhnliche dieser Insel aber sind die 13 Felslabyrinthe, die das Volk der Sami in vorgeschichtlicher Zeit hier angelegt hat, darunter auch das größte derartige Felslabyrinth Russland.
Die Solowetzky-Inseln dienten den Sami und anderen Bewohnern Kareliens als spirituelles Zentrum. Die Inseln waren nie dauerhaft bewohnt, aber immer wieder aufgesucht, um Zeremonien abzuhalten und die geheimnisvollen Labyrinthe zu pflegen. Erst die Ankunft orthodoxer Mönche und deren ständige Besiedlung fast aller Inseln ließ den alten Kult zugrunde gehen. Geblieben sind überaus fotogene moosbewachsene Steinringe, die sich zu Labyrinthen vereinen.
Es regnete weiter, als der mitteilungsfreudige Guide mit dem roten Pferdeschwanz an der kleinen Kirche von Bolschoj Zayatzki ankam und sie nach vielen vorbereitenden Informationen endlich aufschloss. Eine schlichte, aber ausdrucksstarke Ikonostase aus dem 18, Jhdt. befindet sich noch immer in dem Kirchlein und wurde natürlich ausgiebig von dem Vielwisser bis ins Detail erläutert. Dann war es endlich Zeit für die Rückfahrt und Don Curry immerhin 45 Minuten vor dem Regen geschützt.
Es regnete immer stärker, als das Boot wieder an der Hauptinsel anlegte. Don Curry schlug nochmals den Weg zum Kloster ein, kaufte im Laden eine deutsche Beschreibung der Inseln, die eigens von der Verkäuferin mit dem offiziellen Klostersiegel versehen wurde, und verbrachte dann noch etwas Zeit im Refektorium.
Es regnete auch noch, als sich Don Curry auf den Weg zum Bootsanleger machte, über eine Stunde zu früh. Aber er fand eine nette Bank am Ende des Anlegers und beobachtete eine Kindergruppe, die ihr Brot an Möwen verfütterte. Don Curry bemerkte jetzt auch zum ersten Mal, dass sein Atem sichtbar wurde, wenn er ausatmete – so kalt war es inzwischen geworden, vermutlich nur noch 5° C. Eigentlich - so wurde ihm langsam klar - passt dieses deprimierend trübe Wetter ganz gut zu weiten Teilen der Geschichte dieser Inseln: zur sicherlich gewaltsamen Vertreibung der Sami und ihres Kultes, zur Vernichtung der Mönche in der Sowjetzeit und zur Nutzung der Inseln als riesiges Internierungslager, als Gulag unter Stalin, in dem Tausende zugrunde gingen. So trübsinnig waren inzwischen auch Don Currys Gedanken geworden - nach 9 Stunden andauernder Kälte und Nässe!
Und dann, 15 Minuten bevor die „Metel-4“ betreten werden konnte, endete der Regen, riss der Himmel auf und begann die Sonne zu strahlen. Noch einmal Solowetzky im Sonnenlicht – Don Curry genoss jede einzelne Sekunde.
Nach 2 Stunden Rückfahrt in einem überbelegten Schiff und einem deutlich unruhigeren Meer war endlich Rabocheostrowsk erreicht. Auf halbem Weg zu seinem Zimmer lag das Restaurant, und Don Curry beschloss, dort unbedingt einzukehren. Erst dort bemerkte er wirklich, wie durchnässt und durchfroren er war nach diesem Tag; immer wieder begann er unkontrollierbar zu zittern. Doch dann kam ein Wodka Kalevala, ein Krusovice, eine cremige Fischsuppe und ein Topf frisch bereiteter Pelmeni. Es gab nichts mehr zu zittern.
Und doch – was für ein Tag: welch ununterbrochen grauer Himmel, welch ungeheure Regenmassen, welch unerwartete Kälte. Das war finsterstes Novemberwetter, empfand Don Curry. Doch er fragte sich mit Grausen, wie das Wetter auf den Solowetzky-Inseln tatsächlich im November sein würde.
In seinem Zimmer drehte er als erstes die Heizung auf…