Veröffentlicht: 02.07.2023
Don Curry beschäftigt sich stets mit der Geschichte, wenn er ein neues Land, eine neue Stadt besucht. Viele Besonderheiten der Gegenwart sind historisch gewachsen und lassen sich besser verstehen, wenn man die Hintergründe kennt. Jerewan gehört zu den ältesten Städten der Welt; bereits 782 v. Chr. errichteten die Urartäer die Festung Erebuni im heutigen Stadtgebiet und beherrschten von hier aus weite Teile der Region. Auch in den vielen Jahrhunderten danach kam Jerewan unter verschiedenen Herrschaften eine gewisse Bedeutung zu. Doch erst mit Beginn der Sowjetzeit setzte eine rapide Entwicklung der Stadt ein. Noch zu Beginn des 20. Jhdt. besaß Jerewan gerade einmal knapp 30.000 Einwohner und galt als orientalisch geprägte Stadt. Der armenische Architekt Alexander Tamanyan wurde schließlich beauftragt, einen Gesamtplan für das neue Jerewan zu entwickeln, ähnlich wie es Baron Haussman einst für Paris getan hatte. Rigoros ging historische Bausubstanz verloren, uralte Kirchen, Moscheen, Synagogen mussten weichen, um ein Netz breiter Boulevards zu schaffen und repräsentative Plätze anzulegen. Außerdem sorgte Tamanyan dafür, dass ein Gürtel von Park- und Grünanlagen um das eigentliche Zentrum der Stadt entstand. Inzwischen besitzt Jerewan über eine Million Einwohner und wuchert in alle Richtungen weiter. Leider werden auch die Grünanlagen immer mehr reduziert, weil sie zentrumsnahes kostbares Bauland darstellen.
Einen Teil der Millionenstadt hatte Don Curry sofort vor Augen, als er erwachte und einen ersten Blick aus dem Fenster warf. Bis zum Horizont breiten sich Hochhäuser und andere Gebäude aus - und über allem thront der Ararat, heute in fast wolkenloser Pracht. Noch mehr Überblick bekam Don Curry von der mit bequemen Sitzmöbeln ausgestatteten Dachterrasse in der 15. Etage, die zugleich den Frühstückssaal beherbergt. Hier konnte Don Curry wählen zwischen Spiegelei oder Omelette, zwei verschiedenen Säften, Kaffee oder Tee, drei Sorten Müsli und vielen anderen Optionen internationaler und armenischer Frühstücksangebote. Besonders interessierte ihn der fast schwarze Rinderschinken Basturma, der in dünnen Scheiben fast auf der Zunge zerging. Mit diesem Buffet würde Don Curry auch die kommenden Tage gut zurechtkommen.
Xerra hatte sich heute einen freien Tag verdient, da man in Jerewan oftmals zu Fuß besser voran kommt als im ständigen Stau des Straßenverkehrs. Außerdem sorgt die hohe Bebauung der breiten Boulevards dafür, dass es eigentlich immer einen schattigen Bürgersteig gibt, zumindest auf einer Seite. Als erstes Ziel diente Don Curry die relativ nahegelegene "Blaue Moschee" aus dem 18. Jhdt., die einzige noch aktive Moschee Armeniens, zugleich Kulturzentrum des direkten Nachbarlandes Iran. Durch ein hohes farbenprächtiges Tor betrat Don Curry einen schön gestalteten Innenhof mit Springbrunnen inmitten eines gepflegten Gartens. Die mit einer blauen Kuppel geschmückte Moschee durfte zwar nicht betreten werden, doch gaben offene Türen Einblick in den gesamten Innenraum.
Langsam begann sich die Stadt aufzuheizen. Etwas Abkühlung fand Don Curry in der Sankt Sarkis - Kathedrale, der ehemaligen Bischofskirche der Diözese Ararat. Das ursprünglich mittelalterliche Gebäude musste vor 50 Jahren eine drastische Generalüberholung über sich ergehen lassen und macht daher eher den Eindruck eines Kirchbaus des 20. Jhdts. Nach Verlassen der Kathedrale erblickte jenseits einer tiefen Schlucht das Gebäude der Yerewan Brandy Company, Heimat des berühmten Ararat-Weinbrands. Entlang vieler Plattenbauten und einiger Exemplare gelungener moderner Architektur, wie dem Rathaus, erreichte Don Curry schließlich die weltweit größte armenische Kirche: die erst 2001 fertiggestellte Kirche Gregors des Erleuchters. Wie eine Mischung aus traditioneller armenischer Kirchenformen und abstrahierendem Kubismus, wirkt der Bau recht eigenwillig. Allein der warme Farbton des verwendeten aprikosenfarbenen Steins kann sofort überzeugen. Im Inneren setzen sich die kantigen Formen fort; der große Kirchenraum wirkt insgesamt fast leer. Spirituelles Zentrum ist ein volkstümliches armenisches Bild der Muttergottes mit Kind, das Don Curry schon in mehreren anderen Kirchen als Kopien gesehen hatte.
Am Platz der Republik, einem der Meisterwerke Tamanyans, betrat Don Curry das Historische Museum Armeniens, das sich allerdings in einer Phase der Neukonzipierung befindet, und daher zur Zeit über viele Räumlichkeiten und Etagen verteilt ist. Jedesmal nach Verlassen eines Raums wurde ihm gesagt, wo die Ausstellung weitergehen würde. Nach so viel Kunstgenuss benötigte er eine Pause im Restaurant Tavern Yerewan, das ihm die Rezeptionistin des Hotels besonders empfohlen hatte. Jetzt zur Mittagszeit bekam er ohne Reservierung einen Tisch im angenehm kühlen Speiseraum im Untergeschoss. Don Curry wählte die typisch armenische Joghurtsuppe Spas und ein Hühner-Kebab mit bulgarischem Salat, dazu eine hausgemachte Feigen-Aprikosen-Limonade und ein Wasser. Die üblicherweise kalt servierte Suppe wurde hier heiß angeboten, der bulgarische Salat stellte eine Mischung aus kleingeschnittener Petersilie, Koriander und Paprika dar. Insgesamt zeigte sich Don Curry aber sehr zufrieden; er bestellte sich noch ein Glas eines besonders guten armenischen Rotweins, das anschließend die Hälfte des Gesamtpreises ausmachen sollte. Nun war der Weg zum Hotel nicht mehr weit und eine ausgiebige Mittagspause angesagt.
Nach seinem ersten Gang durch Jerewan fiel Don Currys Urteil ernüchternd aus. Der überall spürbare Mangel an wirklich historischer Bausubstanz ließ die Stadt fast charakterlos wirken, wie eine willkürliche Zusammensetzung von häßlichen Plattenbauten, schicken Glasfronten und einigen wenigen ambitionierten Gebäuden. Dazu die Hitze, der ständige Straßenlärm und das Verkehrschaos trotz der breiten Boulevards. Eigentlich, so dachte Don Curry, ist das Schönste an Jerewan der Blick auf den Ararat.
Um 17:00 Uhr brach er nochmals auf, diesmal einen anderen Teil der Innenstadt ansteuernd. So traf er auf einen ausgedehnte Fußgängerzone und einen hübschen Springbrunnen vor dem Kino "Moskwa" aus den 50er Jahren, das tatsächlich immer noch aktuelle Blockbuster zeigt. Nur wenige Schritte weiter hat sich eine der ältesten Kirchen Jerewans erhalten, die Kathogige, ein winziges Kirchlein mit nur wenigen Quadratmetern Fläche. Direkt daneben meinte man, eine mehrfach größere Kirche bauen zu müssen, in deren Schatten die Kathogige fast untergeht. Doch die neue Kirche steht fast leer, bei der Kathogige stehen die Menschen Schlange, um Kerzen entzünden zu können...
Auf seinem weiteren Weg entdeckte Don Curry noch mehr Erstaunliches. Der Platz vor dem Opernhaus diente als Fahrschule für Kleinkinder: zahlreiche kindgerechte Elektroautos warteten darauf, von den Kleinen auf dem großen Platz erprobt zu werden. Das Opernhaus bildet die eine Hälfte eines eigentlich ovalen Bauwerks; die andere Hälfte beherbergt die Ballett- und Symphonieorchesterbühne. Vor diesem Kulturtempel erhebt sich ein großes Denkmal Aram Khachaturians, des weltweit berühmtesten Komponisten Armeniens. Don Curry nutzte die Gelegenheit, einen Blick auf das nur 300 m entfernte Wohnhaus des Musikers zu werfen: klein, aber elegant - allerdings fast erdrückt durch den wuchtigen Bau des Khachaturian-Museums direkt dahinter.
Über einige schmale Gassen fand Don Curry schließlich den Weg zur Kaskade, dem letzten großen Städtebauprojekt Tamanyans. In die Flanke eines Hügels entwarf der Architekt eine Prunktreppe mit zahlreichen Springbrunnen und Platz für Blumenrabatten und Kunstwerken. Parallel zu den Treppen verläuft eine Art Kunstmuseum der Moderne, das die einzelnen Etagen durch Rolltreppen verbindet und schon neben diesen Beförderungsmitteln Kunstwerke aufgestellt hat, die man im Vorbeirollen betrachten kann. Don Curry mag solche kreativen Ideen. Ihm gefiel auch der grandiose Ausblick von der obersten Etage der Kaskade. Wieder unten angelangt spielte dort gerade eine Band armenischen Ethno-Pop und regte Dutzende Passanten zum Mittanzen an. Hier an der Basis der Kaskade hatte sich eine Schatzkammer zeitgenössischer Plastik versammelt: allein drei großartige Werke Boteros konnte Don Curry entdecken, natürlich auch einen Calder. Er fand einen Platz auf einer der zahlreichen Bänke, lauschte der fröhlichen Musik und betrachtete das tobende Leben um ihn herum. Die Tageshitze nahm allmählich ab, das Leben draußen konnte beginnen!
Auf dem Rückweg zum Hotel entdeckte er, wie Teile eines Plattenbaus mit Tausenden blühenden Blumentöpfen verziert worden war. Blütenpracht statt Bröckelzement! In einer Grünanlage sprudelten auf einer großen Fläche Mini-Fontänen aus dem Boden, teilweise sogar farbig beleuchtet. Dutzende Kleinkinder jauchzten beim Hüpfen und Laufen durch die Fontänen, manche fuhren sogar mit dem Dreirad zwischen den Wasserstrahlen durch; und alle freute sich am kühlenden Nass.
Don Curry spürte nach seinem ausgiebigen Mittagsmahl keinen allzu großen Appetit mehr: Er entdeckte eher zufällig einen ziemlich großen unterirdischen Supermarkt, deckte sich mit Getränken ein und schaute auch in der Weinabteilung vorbei. Dort steht stets eine Mitarbeiterin zur Beratung bereit, problemlos auch in perfektem Englisch. So kaufte sich Don Curry hier einen von ihr empfohlenen Granatapfelwein, der tatsächlich zu 70% aus Granatäpfeln produziert wird. Er fragte auch nach armenischem Gin, der ihm allerdings bei einem Preis von fast 50 € pro Flasche deutlich zu teuer war. Dann besorgte er sich abermals ein Chicken Shawarma with everything von derselben Fastfood-Kette wie gestern. Wieder gab es ein leckeres Mahl auf seinem Balkon mit weitem Blick über das nächtliche Jerewan.
Diese Stadt macht es einem Besucher nicht leicht, resümierte Don Curry. Sie wirkt zuerst beliebig, austauschbar, fast schon abstoßend. Doch sie hat erkannt, dass sie nicht mit Historie wuchern kann wie so viele Städte auf der Welt. Aber sie kann mit Gegenwart wuchern; sie kann sich bemühen, das Leben ihrer Bewohner ein Stück angenehmer, lebenswerter zu machen: durch Spielplätze vor Opernhäusern, durch kunstvoll gestaltetes Kinderlachen im Fontänenpark, durch Kunst im öffentlichen Raum, die zum Staunen und zum Lächeln bringt. Jerewan setzt keinen SocialMedia-Filter auf, Jerewan setzt auf das Leben. Diese Stadt kann man erst dann wirklich mögen, wenn man in ihr lebt...