Veröffentlicht: 30.06.2023
Don Curry hörte das Meer. So kam es ihm jedenfalls vor, als er beim ständigen Geräusch des Wellenschlags gemischt mit dem unverkennbaren Lachen von Möwen erwachte. Doch er befand sich nirgendwo an einem Meer, er lag in einer kleinen Hütte in 1900 m Höhe über dem Meeresspiegel am Sewansee. Kein Wunder, dass die Nacht überraschend kühl gewesen war, glich diese Höhe doch ziemlich genau jener in Tuschetien, in der er übernachtet hatte.
Da er sich heute ein etwas übersichtlicheres Tagesprogramm vorgenommen hatte, konnte er relativ später zum Frühstücksbuffet aufbrechen. Er wärmte sich lieber noch etwas in der Sonne auf und machte einen kleinen Spaziergang am Seeufer. In der Ferne erblickte er die Halbinsel mit dem Kloster Sewanavank; die beiden Kirchtürme ragten deutlich heraus. Das Buffet glich eher einem Brunch, denn zu den üblichen Frühstücksoptionen gab es zusätzlich eine Art Würstchengulasch in würziger Tomaten-Dill-Sauce und dazu passend Karottenreis. Don Curry beschloss, deftig in den Tag zu starten. Bei Xerra angekommen erkannte er, dass der Riss in der Windschutzscheibe über Nacht auf 30 cm ausgedehnt hatte.
Natürlich stand ein Kloster ganz am Anfang seiner Route. Nur wenige Kilometer südlich seines Hotels erhebt sich Hayravank direkt am Seeufer. Es ist längst nicht so populär wie die gestern besuchten Klöster, so dass es Don Curry ganz für sich hatte. Vom nächsten Ziel konnte er das nicht behaupten, denn dort stand ein weiterer Kulminationspunkt der armenischen Kultur im Mittelpunkt: der Chatschkar, der Kreuzstein. Überall in Armenien und den ehemals armenischen Gebieten stehen diese kunstvoll bearbeiteten Steine. Sind zwischen 1 und 3 Metern hoch und zeigen in jedem Fall ein stilisiertes Kreuz, meist mit überaus fantasievollen Arabeskenmustern verziert, die auf orientalische Einflüsse schließen lassen. So wie im Islam figürliche Darstellungen verboten sind und man sich ganz auf dekorative Ornamente und Muster konzentriert, gibt es auch bei den Chatschkaren fast ausschließlich diese filigrane Abstraktion um das Grundmotiv des Kreuzes herum. Nur ganz wenige berühmte Ausnahmen zeigen Christus am Kreuz und andere biblische Szenen. In Haghpat konnte Don Curry einen derartigen Ausnahme-Chatschkar bestaunen.
Die weltweit größte Ansammlung an Chatschkaren findet sich am Rand des Dorfes Noratus am Sewansee; und genau dieses Ziel steuerte Don Curry nun an. Schon von weitem sah er etwas, dass wie eine Armee still stehender Soldaten wirkte. Hunderte von Chatschkaren aus dem 10. bis 16. Jhdt. recken sich dort in den Himmel, manche nebeneinander in Reih und Glied, andere ohne erkennbare Ordnung. Doch eines haben sie gemeinsam, sie alle sind konsequent nach Westen ausgerichtet, zur untergehenden Sonne. Dort ist ihre fein verzierte Schauseite, die Rückseite ist einfach nur geglättet oder gar nicht bearbeitet. Für den Fotografen Don Curry ergab sich nun ein Problem: er war am Vormittag in Noratus angekommen, die Sonne strahlte noch vom Osten, die kostbaren Kreuzsteine daher im vollen Gegenlicht. Doch Don Curry wusste bereits, wie er dieses Problem lösen würde. Auch wenn die vielen Kreuzsteine heute Teil des Friedhofs von Noratus sind, wurden sie ursprünglich nicht als Grabsteine errichtet, sondern als Gedenksteine oder einfach als Glaubenszeugnis. Die Gräber wurden mit flachen Grabplatten bedeckt, oder mit verzierten sargförmigen Grabaufbauten. Auch das findet sich zahlreich zwischen den Chatschkaren.
Don Curry fuhr weiter am Ufer des Sewansees entlang Richtung Süden. Hier gab es noch einen anderen Standort bedeutender Kreuzsteine. Hoch über dem Dorf Nerkin Getashen erhebt sich das Kloster Notavank direkt auf dem Friedhof des Ortes. Von dem Kloster blieb nur noch die Kirche übrig und eine ganze Reihe von Chatschkaren, die man um die Kirche neu gruppiert hatte. Daher spielte bei ihnen die ursprüngliche Westausrichtung keine Rolle, die meisten boten sich Don Curry im prallen Sonnenlicht dar.
Er zielte anschließend das entfernteste Ziel seines Programms an. Kloster Makenjaz liegt in den Bergen genau südlich des Sewansees. Als Don Curry allerdings die Abzweigung zum Kloster erreichte und sah, das er gut 10 km einer schlechten Pisten folgen sollte, strich er das Kloster vom Tagesplan, um Xerras Windschutzscheibendrama nicht noch mehr zu vergrößern. Das Kloster Vanevank am Dorfende von Artsvanik konnte er auf asphaltiertem Untergrund anfahren. Ähnlich wie in Notavank gab es auch hier nicht mal die obligatorischen Kerzenverkäufer; Don Curry blieb allein mit diesen dunklen altertümlichen Kirchen. In der Nähe von Artsvanik sollte sich außerdem eine Felsinschrift irgendeines urartäischen Königs befinden. Doch obwohl Don Curry exakt zu der in GoogleMaps angezeigte Stelle hinging, erlebte er nur herrliche Landschaft, eine Fülle an Wildblumen, eine Menge rötlicher Felsen und laut bellende Hunde, denen seine Annäherung gar nicht gefiel. Also brach er seinen kleinen Spaziergang ab und steuerte Xerra wieder Richtung Hotel.
Unterwegs hielt er an einigen Werkstätten, um eine Lösung für den Riss in der Scheibe zu finden; doch stets wurde er zur nächsten Werkstatt weitergeschickt. Einer, der ein wenig Englisch sprach, meinte schließlich: "Wir können das nicht. Das geht nur in Jerewan." Also musste Don Curry wohl oder übel das weitere Angehen des Problems verschieben. Nach weiteren Fotos in ausgedehnten Wildblumenparadiesen fuhr er abermals in Noratus vorbei, um nun mit der abendlichen Sonne die Kreuzsteine im allerbesten Licht fotografieren zu können.
Zurück in seiner kleinen Hütte im Hotel Lavash gönnte sich Don Curry etwas Ruhe, schrieb an seinen Berichten und genehmigte sich einen kleinen Strandspaziergang . Ein ganzer Reisebus voll Asiaten war in dem Hotel angekommen und wurde in einem Saal mit Abendessen versorgt. Zum draußen Sitzen war es am heutigen Abend zu kühl, so wartete Don Curry, bis im regulären Speiseraum endlich ein Platz frei wurde. Er bestellte sich eine Linsen-Sauerampfer-Suppe, Hühnchen-Barbecue mit Brat-Kartoffeln und gebratenem Kerbel, Lavash und dazu ein Bier. Leider gab es heute kein Fassbier, so dass er mit einer Flasche Ararat Gold aus der Gjumri-Brauerei vorlieb nehmen musste. Außerdem goutierte er ein Glas Granatapfelwein, doch erwies sich der nicht als erwarteter Fruchtwein, sondern wurde vermutlich allein wegen seiner tiefroten Farbe so genannt; ein normaler armenischer Rotwein eben.
Nach Einbruch der Nacht zog ein gewaltiges Gewitter über den Sewansee. Für ungefähr 20 Minuten sorgte es sogar für einen totalen Stromausfall in der gesamten Umgebung. Nun wurden die Blitze zur einzigen Lichtquelle weit und breit. Doch so schnell, eie es gekommen war, zog es weiter. Das Licht ging wieder an. Die Natur beruhigte sich.
Das Thema "Kreuzsteine" würde Don Curry in Arrmenien weiterhin begleiten. Eigentlich gibt es kaum ein Kloster, an dem nicht ein paar besonders schöne Exemplare erhalten sind. Doch in dieser Fülle wie heute, wird Don Curry sie nicht wieder antreffen. Er bedauerte jetzt schon, dass er seine Seeidylle morgen aufgeben muss. In Jerewan wird er es wohl kaum hören: das ständige Geräusch des Wellenschlags und das typische Lachen einer Möwe. Doch heute schlief er noch einmal mit diesen natürlichen Klängen ein...