Veröffentlicht: 21.08.2022
Die Erkenntnis meiner gestrigen Tagestour war ja - der Col Tsa Setze mit gesamter Ausrüstung ist keine gute Idee. Leider waren andere gute Ideen auch rar. Ich könnte natürlich einfach über die Fahrstrasse von Cogne nach Aosta runterrollen. Aber wer will das schon? Oder ich nehme den Trail direkt zum Col de Drinc, den ich gestern abgefahren bin. Der war allerdings auch steil und streckenweise verdammt ausgesetzt. Aber immerhin nicht allzu verblockt. Ein Zuckerschlecken wird das auch nicht. Die beste aller schlechten Optionen schien es wohl trotzdem zu sein.
Also, gleiches Prozedere wie gestern morgen - frösteln, lecker frühstücken und dann noch packen. Los geht‘s. Den unteren Teil schob ich so vor mich hin, den Weg kannte ich ja schon. Weniger anstrengend wurde es dadurch aber halt auch nicht. Nach knapp zwei Stunden hatte ich dann die Schlüsselstelle vor mir. Eine steile Schlucht und dahinter eine noch steilere Felswand, die grimmig zwischen mir und dem nächsten Grasplateu stand. Wie um Himmels Willen war ich da gestern runtergekommen? Und, noch viel wichtiger, wie soll ich denn da heute wieder hochkommen? Ich nahm also all meinen Mut zusammen und folgte dem steilen, schottrig-sandigen Pfad an der Hangkante entlang. Wenn man lediglich zu Fuß unterwegs ist, ist das schon ganz gut machbar. Man sucht sich die Balance, und kann sich notfalls mit den Händen am Geröll und Fels abstützen. Mit Radel hat man diese Optionen nicht. Man hat die Hände am Lenker, muss das Gefährt und sich selbst auf dem gleichen engen Stück Pfad in Balance halten, und beim Schieben höllisch aufpassen, dass das Vorderrad nicht unkontrolliert vom Weg in Richtung Abhang abrutscht. Und lediglich der dosierte Einsatz der Bremsen hilft, dass das Radel dabei nicht nach hinten wegrollt. Kurzum, das ganze Unterfangen gestaltete sich äußerst schwierig.
Stück für Stück wuchtete ich meinen viel zu schweren Drahtesel nach oben, dabei immer penibel genau auf die Balance achtend und mit den Füßen Platz suchend neben den Pedalen. An den ganz kritischen Stellen half auch nur mit einer Hand das Radel fest am Rahmen über dem Abgrund halten, und ganz schnell (aber kontrolliert) einen oder mehrere Schritte nach vorn machen. Die Kraftanstrengung war immens, aber einmal in der steilen Wand drin, gab es auch kein Zurück mehr. Also Augen auf und durch. Immer weiter. Bis ich erschöpft aber erleichtert das obere Plateau erreichte. Die Schlüsselstelle war gemeistert. Zwar brachte mich die finale Steilstufe nochmal zum Fluchen, aber da war es dann immerhin nicht mehr so ausgesetzt.
Den grandiosen Ausblick vom Col de Drinc kannte ich ja schon. Nach getaner Arbeit konnte man den aber trotzdem nochmal in vollen Zügen genießen. Vor mir lang nun die, wie ich finde, durchaus verdiente Belohnung - der Pila Epic Freeride. Eine sagenhafte 2200 Tiefenmeter lange Abfahrt durch den gleichnamigen Bikepark bis ganz runter nach Aosta.
Das Ding sprengte alle meine Erwartungen. Der erste Teil ging schon recht flüssig durch hochalpines Gelände. Dann folgte ein 150 Meter langer Gegenanstieg, der mich die letzten Körner kostete. Ziemlich erschöpft startete ich also in den zweiten Teil der Abfahrt. Tja, und was soll ich sagen? Es ging rasant bergab, die Adrenalin-Produktion wurde auf Anschlag gefahren, und ich kam in diesen einzigartigen Flow-Zustand wegen dem Biken nicht nur generell gesünder sondern punktuell auch so viel berauschender ist wie es jedweder Drogenkonsum auch nur sein könnte. In Highspeed bretterte ich über einen leicht steinigen Naturpfad bergab, der sehr schnell befahren werden konnte aber trotzdem die volle Konzentration benötigte. Für einen vergleichbaren ähnlich langen Nonstop-Trailrausch konnte ich mich nur an den Downieville Downhill im fernen Kalifornien erinnern. Eine Erlebnis der Extraklasse also.
Total erschöpft, mit schmerzenden Händen vom Bremsen, aber mit einem fetten Grinsen im Gesicht kam ich schließlich in Aosta an. Die nächste Etappe war geschafft, und was für eine! Aber jetzt sollte eh Pause angesagt sein. Die nächsten beiden Tage will ein Tief durchziehen mit ergiebigen Regenfällen. Da mach ich´s mir doch lieber gleich mal in Aosta gemütlich und sitze das aus.