Veröffentlicht: 30.09.2023
Nach Raleigh in North Carolina wäre ich ohne das IBMA (International Bluegrass Music Association) World of Bluegrass Festival wohl nie gekommen. Zwar ist es die Hauptstadt des Staates aber besonders attraktiv scheint es nicht zu sein. Vielleicht habe ich auch zu wenig Zeit, hier wirklich etwas außerhalb des Festivals kennen zu lernen. Das Festival fand bisher bereits in verschiedenen Städten statt, ist aber seit 2013 in der Stadt Raleigh beheimatet. Allerdings wird es nach 2024 in eine andere Stadt umziehen. Zu dem Festival gehören eine dreitägige Konferenz mit zahlreichen Veranstaltungen für Musiker, Verlage, Songschreiber, Produzenten, Vertretern der Musikindustrie und eine große Messe mit allem was mit (Bluegrass) Musik zu tun hat.
Die ersten drei Tage (26.-28. September) findet die Konferenz statt und am Freitag und Samstag finden öffentliche Konzerte verteilt über die Innenstadt statt. Meine Aufgaben als Freiwilliger sind u.a.: Einlasskontrolle im großen Ballroom Veranstaltungssaal zu den Momentum Awards, Hilfe bei der Einlasskontrolle im Pour House, Kartenverkauf für Veranstaltungen und allgemeine Informationen geben, Betreuung des Standes “KultureCity Inclusive Sensory” (z.B. für autistische Besucher) und Hilfe beim Merchandise Stand. Über die gesamte Zeit des Festivals sind etwa 200 Freiwillige im Einsatz. Mit sehr vielen nehme ich aufgrund unser unverkennbaren gelben T-Shirts ein kurzes Gespräch auf. Mit einigen spreche ich länger, z.B. während einer “Shift”. Der wohl aufregendste Einsatz findet für mich beim IBMA Merchandise Stand statt. Hier werden IBMA T-Shirts verschiedener Ausführungen und Größen verkauft. Zudem Aufkleber, Caps und Tassen. Aufregend und herausfordernd ist die Konversation mit älteren Menschen oder Kunden, die einen starken Südstaatenakzent haben. Es ist durchgehend gut zu tun und die angebotenen Waren gehen im wahrsten Sinne weg wie warme Semmeln. Die meisten Kunden zahlen mit Kreditkarte, was nach einer kurzen Einarbeitungsphase auch problemlos klappt. Zwischendurch bekomme ich die Schürze für Bargeldzahlungen. Auch spannend. Da der Merchandisestand direkt neben der Youth Stage liegt, bekommen wir rundum Musik zu hören von verschiedenen Bands bestehend aus Kindern und Jugendlichen.
Gleich am ersten Tag der Konferenz treffe ich Tyler Griffith den ich vor einigen Monaten in Sandhatten beim Konzert seiner europäischen Bluegrass Band King Springs Road kennen gelernt hatte. Er spielt hier während des Festivals mehrfach mit der Band Seth Mulder & Midnight Run.
Über die gesamte Innenstadt verteilt treffen sich immer wieder Musiker um spontan eine Jamsession zu machen. Besonders abends in den Fluren der Hotels ist es spannend diesem Treiben zuzuhören und mitzumachen. Es werden immer wieder Songs gespielt, die ich kenne und andere Stücke sind von den Akkorden her schnell aufzufassen. Es tummeln sich unzählige Martin Gitarren (und ähnlich aussehende Gitarren), Dobros, Fiddles, Mandolinen, Banjos, Bässe und gelegentlich Mundharmonikas. Interessant sind auch die unterschiedlichen Fortbewegungsarten für die verschiedenen Instrumente. Am glücklichsten sehen die Fiddle- und Mandolinenspieler aus. Fast alle Bassisten tragen schwer an ihren Instrumenten…
Bei der Auftaktrede (Keynote Speech) spricht Matt Glaser
https://www.facebook.com/intlbluegrass/videos/851262213221338
und vergleicht bzw. zieht Parallelen bei diversen Stücken aus dem Bluegrass Genre und dem Jazz und stellt die gegenseitige Beeinflussung der Musiken dar. So sind etwa manche Aufnahmen früherer Stücke im gleichen Studio aufgenommen worden, während die nachfolgenden Musiker bereits anwesend waren. Matt Glasers Vortrag ist sehr spannend für mich; leider sind die entscheidenden ersten 18 Minuten bisher bei den Aufnahmen seines Vortrags nur sehr leise zu hören. Immer wieder gibt er der Abkürzung IBMA eine neue Bedeutung: “I blame mostly Armstrong” und “Imitate Bill Monroe Always”. Auffallend bei der Veranstaltung ist, dass viele Besucher kräftig applaudieren, eine nicht unübersehbare Anzahl allerdings auch gänzlich still bleibt.
Am Dienstag Nachmittag nehme ich allen Mut zusammen und nehme an einem Song Circle teil. Hier sitzen wir alle im Kreis und eine “Moderatorin” namens Melody (eine Familienband namens Williamson Branch) beginnt mit einem ihrer Songs. Jeder stellt einen Song vor und die Anwesenden applaudieren und kommentieren. Ich singe meine Songs “Don’t stop just now”, “No wonder why”, und zwei meiner deutschsprachigen Lieder “Was seh ich da” und “Träume von Whisky und Haggis”. Ich bekomme viel Applaus und die Rückmeldung, dass die Akkorde und Struktur der Songs sehr innovativ und passend seien. Von den anderen Teilnehmern sind die Songs musikalisch überschaubar. Sie erzählen guten Geschichten und beinhalten oftmals einen Namen eines Bundesstaates oder verschiedener Orte oder namenhafter Dinge (John Deere).
Am Dienstag Abend findet im Lincolns Theater die Kickoff Party statt. Die erste Band ist “Special Consensus” mit diversen Special Guests. Erst im Nachgang des Abends wird mir bewusst, wen ich da gehört habe und warum die Musik der Gruppe so herausragend ist. Besonders ihr Mandolinenspieler beeindruckt mich stark mit seinem virtuosen, schnellen Spiel. Die nachfolgende Band “Country Gongbang” kommt aus Südkorea ist wohl der internationale Teil des Festivals. Wie so oft erlebt, ist ihre Musik virtuos und echt hörenswert, ihre Ansagen und Bühnenpräsenz aber noch deutlich ausbaufähig. Sie tragen ihre Songs in Koreanisch vor, das beeindruckt mich. Als nächster Act kommt Violet Bell zu Gehör. Leider sind meine Energiereserven aufgebraucht und ich entscheide mich nach gut der Hälfte des Sets nach Hause zu fahren.
Am Mittwoch Morgen bin ich als Volunteer für die Eingangskontrolle der Momentum Awards zuständig. Nach dem Einlass, schauen wir Volunteers zu und besonders beeindruckt mich ein Video der Norwegischen Band “Hyde Bluegrass Orchestra”. Die Besetzung ist deutlich erweitert und besteht neben den Bluegrass-typischen-Instrumenten auch aus Klavier, Akkordeon, und einer Bläser-Sektion aus Trompete, Saxofon und Posaune. Während der Auszeichnungen ist das Klappern des Geschirrs ein interessanter Störfaktor.
Nachmittags nehme ich an einer Veranstaltung von Künstlern, Komponisten und Verlegern teil. Interessant ist etwa der Versuch, sich als Bluegrass Association von der viel größeren CMA (Country Music Association) abzugrenzen. Auf der Messe spiele ich einige interessante Mandolinen an. So hat der Gibson Stand etwa ein Re-Issue der legendären Lloyd Loar F5 Mandoline aus dem Jahr 1923 zum hundertjährigen Jubiläum im Angebot. Mit edlem Koffer und kleinem Fotoetui für knappe 20.000 Dollar. Ich spiele auch einige historische Gibson Mandolinen (sowohl A- als auch F-Style). Aber in der Lautstärke einer Messehalle lässt sich kein aussagekräftiges Urteil bilden. Allen historischen Instrumenten fehlt der letzte Schliff zur guten Bespielbarkeit. Mal sind die Bünde runtergespielt oder stehen vom Griffbrett ab, mal ist die Seitenlage nicht optimal.
Auf der Messe spreche ich kurz mit Neil V. Rosenberg. Er ist Autor zahlreicher Musikbücher zu verschiedenen Themen. Eines meiner ersten Bücher zum Thema Bluegrass (in den 1990iger Jahren gekauft) ist sein Standardwerk “Bluegrass: A History”.
Abends habe ich einen weiteren Volunteereinsatz im Pour House. Eine Music Hall, die unzählige Konzerte mit lokalen Bands von Rock, Metal, Alternativ veranstaltet. Aber an diesem Abend sind es eben Bluegrass Bands. Beim Einlass haben die dort anwesenden Mitarbeiter alles im Griff und ich kann die Besucher und die angrenzenden Straßenszenen gut beobachten. Irgendwann komme ich auch mit dem einem Mitarbeiter ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass er auch Musiker ist und ein kleines Tonstudio betreibt. Nachdem mein Einsatz beendet ist, gehe ich auch in den Veranstaltungsraum und höre die Band “Rachel Sumner & Traveling Light”. Besonders beeindruckt mich das Lied “Radium Girls”, welches die Geschichte von jungen Frauen erzählt, die in den 1920iger Jahren vor allem Zifferblätter von Uhren mit Radium angemalt haben und in großer Anzahl krank wurden und starben. Oftmals wussten die Firmen um die Gefahr und erst nach längerer Zeit und einigen Prozessen wurden die Arbeitsbedingungen geändert und Gesetze verabschiedet, die zur Sicherheit und Gesundheit von Arbeitskräften beitrugen.
https://youtu.be/FPZoKte3zd8?si=hqoZBb_qsc1rOnMk
Anschließend ist der erst 14 jährige Wyatt Ellis mit Band zu hören. Dieses Ausnahmetalent hat offensichtlich von der Corona Pandemie profitiert, indem er während der Zeit sein Mandolinenspiel perfektioniert hat und mit zahlreichen anderen Musikern gespielt und Stücke komponiert hat.
Nach diesem Auftritt gehe ich ins Marriott Hotel und höre auf den Fluren einigen Sessions zu. Dann höre ich noch den Auftritt von Seth Mulder & Midnight Run. Die instrumentalen Fähigkeiten und das perfekte Zusammenspiel finde ich beeindruckend.
Die ziemlich durchgetaktete Award Show findet im Lincoln Theater statt. Ein großer Veranstaltungsraum mit etwa 350 Sitzplätzen. Durch die Show führen Molly Tuttle und Ketch Secor. Es werden Preise vergeben für verschiedenste Bereiche, zum Beispiel die beste männliche/weibliche Stimme des Jahres, die besten Instrumentalaufnahmen des Jahres, den besten Song des Jahres. Und es werden verstorbene Musiker bedacht (z.B. Jesse McReynolds, Bobby Osborne). Mich freut besonders die Aufnahme meiner Mandolinen-Idole David Grisman und Sam Bush in die “Hall of Fame”. David Grisman “The Dawg” bedankt sich in einer schön gemachten und persönlichen Videoansprache. Sam Bush ist persönlich anwesend und sowohl in seiner Ansprache als auch mit seiner Musik toll und sehr authentisch. Zwischendurch gibt es immer wieder Musik verschiedener Größen der Bluegrassmusik zu hören (Del McCoury Band, Appalachian Road Show, Crying Uncle Bluegrass Band, Molly Tuttle & Golden Highway, Sister Sadie, The Po’ Ramblin’ Boys, Sam Bush, Alison Brown und Steve Martin - ja, der Schauspieler!).
Nach der Show schnappe ich mir meine Mandoline und mache bei einigen Session im Marriott Hotel mit. Bei einer der Sessions treffe ich die Mitbewohnerin meiner Airbnb Unterkunft. Sie ist extra aus Nashville für die Präsentation eines Songs im Rahmen der Messe angereist.
Am Freitag und Samstag finden die großen Konzerte im Außengelände eines Amphitheaters statt. Ich habe zwar eine Karte für einen anderen Bereich, setze mich aber auf einen freien Platz in der ersten Reihe. Am Samstag sitzen die beiden IBMA Vorsitzenden Paul Schiminger und Ken White neben mir. Mit Ken komme ich ins Gespräch - ein netter Typ.
Hier höre ich:
(Freitag)
Michael Cleveland & Flamekeepers
Mighty Polar
The Del McCoury Band
(Samstag)
Po’ Ramblin’ Boys mit Überraschungsgästen (u.a. Wyatt Ellis)
The Kruger Brothers play Doc Watson with Special Guest Jerry Douglas
Molly Tuttle & Golden Highway
Auch nach diesen beeindruckenden Konzerten höre und spiele ich noch im Marriott Hotel Musik.