Vier Reifen und zwölf Pfoten
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100 Meter abseits von Sonne, Strand und Meer

Veröffentlicht: 14.02.2022

#20 – Aguadulce

Sonntag nachmittag. Strahlender Sonnenschein. Während wir am Fenster von hoch oben den Aufmarsch der Reichen und Schönen rund um den Hafen beobachten und sehen, wie sich die Cafés und Restaurants langsam füllen, beschließen wir, einen kleinen Ausflug ins Hinterland von Aguadulce zu machen.

Als junger Bub war der Weber Tom mein bester Freund. Um die vielen Toms auseinanderzuhalten, wurde einfach der Nachname vor den Vornamen gesetzt – umgekehrt hätte das zu offiziell geklungen. So wusste man gleich, von welchem Tom gerade die Rede war. Er hatte ungefähr die gleiche Statur wie wir alle, aber er konnte etwas, um den ihn jeder beneidete: Er konnte weit werfen, richtig weit! Während ich mir im Sportunterricht mit dem Schlagball den Arm halb auskugelte, um an die 40 Meter ranzuschnuppern, ließ er die 80 Gramm schwere Lederkugel mit einem Lächeln um die Lippen aufs Dach der Turnhalle segeln und grinste frech, weil unser Sportlehrer wegen des verlorenen Schlagballs lautstark fluchte.

Keiner wusste genau, wie weit der Weber Tom nun wirklich warf, aber es mag ungefähr so weit gewesen sein, wie hier in Aguadulce Himmel und Hölle auseinanderliegen. Etwa 100 Meter landeinwärts, weg von Meer, Strand, Restaurants und Souvenirläden, weg von den Tausenden Menschen, die hier im Kreise ihrer Liebsten im Sonnenschein die Sonntage verbringen, tut sich eine andere Welt auf. Hier reiht sich auf kargem, trockenen Boden ein Gewächshaus an das andere, quadratisch, mit schweren Seilen in dunkles Plastik verpackt. Wenn sich dazwischen ein schmaler Streifen Land verirrt, ist er zugedeckt mit Müll, meist aus Plastik.

An den Rändern der gut ausgebauten Straßen zwischen den Plastik-Hallen lungern einfache Hütten aus Holz und alten Steinen, die mühsam von dünnen Stahlseilen und zerschlissenen Schnüren aus Hanf oder anderen Materialien zusammengehalten werden. Vor der Haustür baumelt eine Wäscheschnur, auf die ein älterer Mann schwarzer Hautfarbe seine Unterhosen und Socken aufhängt, während ein paar Jüngere dabeistehen und Witze reißen.

Die düstere, künstliche, trostlose Stimmung, die über diesem Landstrich liegt, stört das nicht. Sie ist sicher verschnürt in ein Meer aus dickem Plastik. 50 mal 20 Kilometer groß, eine Fläche, die 35.000 Fußballplätzen entspricht. Alles unter Folien. Hier passt das Wort Treibhaus. Hier wird getrieben, gepresst, gedrängt. Schneller, größer, schwerer. Hier wächst alles im Zeitraffer. Es ist das Obst und Gemüse, das wir im Winter im Supermarkt kaufen. Jeder von uns.

Das Geld, das wir uns dabei sparen, bezahlt die Natur. Da es in Andalusien kaum regnet, reichen die ausgeklügelten Sparmaßnahmen der Landwirte längst nicht mehr. Sie müssen das Grundwasser anzapfen, damit sie ihre Ernte aus den Treibhäusern einfahren können. Die Folge: Der Boden trocknet aus. Die Sandwüsten werden von Jahr zu Jahr größer.  

Und damit der Euro rollt – etwa 3,3 Milliarden Euro Gewinn pro Jahr – wird hier natürlich auch im Sommer produziert. Um die 100.000 Arbeiter schuften dann unendlich lange Stunden am Tag in 50 Grad heißer, pestizidverseuchter Luft – die meisten von ihnen als Illegale. Mindestens drei Jahre versuchen sie so ohne jegliche Rechte und ohne jeden Schutz sich für ihren Betrieb unentbehrlich zu machen. Das ist die Voraussetzung, um einen Arbeitsvertrag zu bekommen, der dann eine tarifliche Entlohnung verspricht.

Auch das ist Spanien, Andalusien. 100 Meter abseits von Sonne, Strand und Meer.

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