Salam ya Amman
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Mindful Clay Workshop

Veröffentlicht: 26.11.2019

Montag, 25. November

7:50 am. Ich wiederhole mich. Es sind immer die wichtigsten Tage, an denen ich verschlafe. Rudaina und Clara warten schon am First Circle auf mich, während ich gerade aus meinem Tiefschlaf erwache. Ich schicke die beiden schonmal los, schlucke in Windeseile ein paar Brotfetzen mit Hummus herunter, wasche mein Gesicht und mache mich dann heute mit einem uber auf den Weg zu Tarabot. Ich habe Glück, noch nicht ganz in den Berufsverkehr hineinzugeraten, und komme 20 Minuten vor Workshop-Start an. Gerade nochmal gut gegangen.

Die Mädels haben schon alles vorbereitet, als ich den Raum betrete, in dem unser Workshop stattfindet. Ein anderer Raum, in dem wir es eigentlich geplant hatten – unerwartet finden heute gleichzeitig noch einige andere Aktivitäten bei Tarabot statt. Aber wir haben uns in den letzten Wochen ja bereits in Flexibilität geübt. Pünktlich um 9 Uhr geht es dann los: 20 Kinder kommen hereinspaziert und setzen sich etwas verschüchtert aber mit neugierigen Blicken auf die riesige Sofareihe, wo zunächst ihre Anwesenheit kontrolliert wird. Sie sehen jünger aus, als erwartet – 13-16-Jährige waren unsere bevorzugte Zielgruppe. Fuad wird uns später sagen, dass die Kinder hier zwischen 12 und 15 Jahren alt sind, gefühlt jedoch eher 12 als 15. Aber wie gesagt: wir sind ja flexibel.

Die Kinder werden nun in zwei Gruppen aufgeteilt. Wir werden den Workshop in den nächsten zwei Stunden zweimal durchführen, mit jeweils der Hälfte der Gruppe, während die andere Hälfte mit Kemo einen Story-Telling-Workshop machen wird. Rudaina begrüßt nun also die erste Gruppe, und ohne im Detail zu verstehen, was genau sie sagt, merke ich direkt, dass sie einen guten Draht zu den Kindern hat. Wir fangen an mit einem kleinen Begrüßungsspiel, in dem die Kinder ihre Namen nennen und etwas, was sie gerne machen oder haben, dann das erste Spiel, das mit unserem Thema zu tun hat: „Discover your boundaries“. Es geht darum, mit seinen Armen und Beinen einen imaginären Ball um sich herumzuspannen, um herauszufinden, wo die eigenen Grenzen anfangen und aufhören. Während jeweils ein Kind mit seinen Armspannen seine Grenzen auslotet, treten die anderen Kinder in seine persönliche, sichere Zone ein. So sollen die Kinder ein Gefühl dafür bekommen, wie viel Raum sie für sich selbst brauchen. In der ersten Gruppe sind alle jüngeren Kinder, und ich bin überrascht, wie gut alle mitmachen, und Spaß dabei haben, ihre eigenen Grenzen auszutesten.

Nachdem Rudaina diese Aktivität mit den Kindern auf arabisch reflektiert, folgt der nächste Teil: eine kurze Meditation. Auch hier mit dem Ziel, ein besseres Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen. Während Rudaina anleitet, auf welches Körperteil sich die Kinder jeweils konzentrieren sollen, hätte ich erwartet, dass es in dieser Altersklasse mehr Tumult gibt. Alles verläuft jedoch sehr ruhig, auch wenn zu sehen ist, dass manche Kinder mehr und manche weniger konzentriert an der Meditation teilnehmen. Dann, der Hauptteil unseres Workshops: das blinde Töpfern. Wir haben Augenbinden auf alle Plätze verteilt, und nach ein paar Anfangsschwierigkeiten (manche der Binden lassen sich nicht ganz so gut über die Hijabs der Mädels ziehen), geht es dann los. Wir haben schon beim Verteilen des Tons festgestellt, dass er ziemlich nass ist, und die Sauerei erwartet, die jetzt losgeht. In Windeseile verteilt sich der matschige Ton auf den Tischen (die wir glücklicherweise vorher mit Folie prepariert haben), den Jacken, Pullovern, Haaren und Augenmasken. Aber es funktioniert: Stück für Stück wandeln sich die unförmigen Tonklumpen in größere und kleinere Körper.

Ein Detail findet dabei im Gegensatz zu den Figuren, die wir selbst vor drei Wochen bei Al-Iraq al Amir erstellt haben, eine besondere Bedeutung: das Gesicht. Fast alle Figuren haben deutlich zu sehende Augen und einen lachenden Mund. Bei einigen Skulpturen ist außerdem zu sehen, dass die Boundary Aktivität Spuren hinterlassen hat: Manche Kinder umranden ihre Figur mit einem Rahmen oder einem hausartigen Gebilde.

Dr. Amina kommt herein und setzt sich eine Weile zu den Kindern. Sie ist studierte Psychologin und sagt uns später, was ihre geschulten Augen beobachtet haben: ein Junge, der ganz hinten im Eck saß, hat eine ganz winzige Figur geformt. So klein, dass man kaum erkennen kann, dass es sich um einen Körper handelt. Amina erzählt uns, dass er seine Augen während des Töpferns ganz fest zusammengekniffen hat, im Gegensatz zu allen anderen Kindern, die zwischendurch immer mal wieder unter ihren Masken durchgelinst haben, um zu sehen, was ihre Hände schon geformt haben. Diese Mikrofigur sei ein Indiz dafür, dass diesen Jungen gerade etwas sehr belastet, sagt uns Amina. Er habe außerdem immer wieder neu die Augen seiner Figur geformt. Auch als alle ihre Binden gelüftet haben, und bei seiner winzigen Figur deutlich zu sehen war, dass die Beine total unterschiedlich lang waren, habe er nur auf die Augen der Figur geachtet, und diese noch weiter bearbeitet. Ich merke, als Amina uns das erzählt, dass ich bei der ganzen Fröhlichkeit und Ausgelassenheit der Kinder, die uns bei Tarabot entgegengebracht wird, ein wenig vergessen habe, welches Päckchen hier viele der überwiegend syrischen Kinder wohl täglich mit sich tragen.

Als die erste Gruppe fertig ist und den Raum verlässt, sind wir bemüht, so schnell wie möglich das größte Chaos zu beseitigen, während Rudaina draußen im großen Saal schon das Boundary Spiel mit der zweiten Gruppe durchführt. Sie wird uns später sagen, dass das mit dieser zweiten Gruppe ein wenig anstrengender war. Es ist mittlerweile full house bei Tarabot: eine andere NGO nutzt heute die Räumlichkeiten hier für eine andere Veranstaltung, weshalb der große Saal voll ist mit fremden Menschen, und sich Rudaina und Kids bei dem Spiel etwas beobachtet und unwohl fühlen. In der zweiten Gruppe sind außerdem die älteren Kinder, die auf mich beim Töpfern zunächst einen ruhigeren Eindruck machen. Rudaina, die alles versteht, was geredet wird, sagt uns jedoch, dass sich die schon pubertierenden Mädels eher über sie lustig gemacht haben, anstatt den Workshop ernst zu nehmen. Interessanterweise war es bei den gleichaltrigen Jungs genau das Gegenteil – sie waren mit sehr viel mehr Konzentration dabei.

Dennoch spiegeln sich auch hier in den Figuren der zweiten Gruppe die Persönlichkeitsgrenzen wider, die Rudaina zuvor mit den Kids besprochen hat – wieder sind viele grenzenartige Gebilde um die Figuren herum zu sehen. Es fällt außerdem auf, dass einige mehr als nur eine Figur formen: andere Personen oder auch Haustiere sind zu sehen. Mir wird bewusst, dass das Umfeld der Kinder eine große Rolle in ihrem Leben spielt. „No man is an island“, wie ich schon so oft in meinem Studium gelernt habe. Dieser Workshop hat wirklich unglaubliches Potenzial, und könnte mit mehr Zeit zu etwas viel Größerem aufgebaut werden. Das sieht auch Dr. Amina so, und zieht in Erwägung, die Aktivität auch nächste Woche mit einer Frauengruppe bei Tarabot durchzuführen.

Wir, die Chaos-Gruppe, sind nun erst einmal froh, dass unser Workshop mehr oder weniger reibungslos geklappt hat. Froh und erleichtert. Jetzt haben wir uns eine Mittagspause verdient, und Sophia und ich sind stolz, Rudaina und Clara zu Abu Wahid zu führen, der uns wie immer freudestrahlend begrüßt. Alle anderen Kunden verhalten sich heute jedoch etwas anders. Rudaina sagt uns auch gleich, woran das liegt: an ihr. Dies wäre kein Ort, an dem sich jordanische Frauen aufhalten, sagt sie, weshalb ihr Auftreten hier für alle Anwesenden etwas irritierend sei. Eine Gruppe Männer streckt ihre Köpfe herein, und schreckt zurück, als sie unsere 4er-Gruppe im Inneren sitzen sieht. Es passiert dann etwas, was noch nie vorgekommen ist, seitdem Sophia und ich hier essen gehen: die Männer tragen sich einen Tisch nach draußen und essen dort neben der Straße. „It’s so weird to be here“, kommentiert Rudaina nur. Ihr Unbehagen legt sich allerdings, als das Essen gebracht wird, und wir alle auf Geschmackswolke 7 schweben. „I think, I’ll come back!“, Rudainas upgedatete Meinung.

Rudaina und Clara machen sich danach auf den Rückweg in die Stadt, während Sophia und ich uns in unseren Englisch-Klassenraum setzen und den Unterricht für kommenden Mittwoch vorbereiten. Es dauert etwas länger als gedacht, und wir sind überrascht, als wir später in den Raum zurückkommen, in dem heute Morgen noch unser Workshop stattgefunden hat, und keine der Ton-Figuren mehr vorfinden (die Kinder wollten ihre Figuren nicht mitnehmen – Gruppenzwang, wie Rudaina uns sagt). Unsere Tarabot-Kolleg*innen dachten, wir seien schon im Feierabend, und haben die Figuren kurzerhand entsorgt. Wir wollten eigentlich ein paar der Figuren für unsere Abschluss-Präsentation in der Uni aufheben. Glücklicherweise haben wir von allem Bilder gemacht. Flexibel sind wir ja. Sehr flexibel.


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