Veröffentlicht: 12.02.2020
Montag, 10. Februar
Wir schlafen heute lange aus, besorgen uns im Supermarkt an der Ecke Hummus und Labneh und frühstücken dann das dunkle Nussbrot, das wir uns in Jerusalem auf dem Markt noch besorgt haben. Mhh. Es ist schon 1 Uhr, als wir das Hostel verlassen. Und das Wetter heute lädt mal wieder nicht gerade zu langen Spaziergängen ein. Es dauert also nicht lange, bis wir das nächste Gebäude betreten. Es ist das Khalil Sakakini Cultural Center.
Das Center ist eine NGO, die palästinensische Kunst und Kultur fördert. Wir treten in einen schönen Raum, mit hohen Decken und hübschem gefliesten Boden, in dem verschiedene Lektüren ausliegen, und handgemachte palästinensische Accessoires zum Verkauf stehen. Leas Blick fällt direkt auf ein Buch, in dem die Geschichte von Jerusalem im Speziellen und Palästina im Allgemeinen erklärt ist, von dem wir uns nun nicht mehr lösen können. Es beschreibt derart anschaulich, wie sich im letzten und diesem Jahrhundert alles zugetragen hat, dass wir uns nach einiger Zeit Stehen in den nächsten Raum setzen, um dort unsere Lektüre fortzusetzen. Hier also wieder Mal eine kleine Geschichtsstunde.
Im Jahr 1882 begannen die ersten Einwanderungen zionistischer Migrant*innen nach Palästina. 1897 wurde im ersten Zionistenkongress unter Theodor Herzl beschlossen, die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für Juden zu erschaffen. Auf den Zionistenkongressen wurde darüber beraten, wie das durch diplomatische Verträge mit europäischen Großmächten erreicht werden kann.
Nach dem ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs wurde Palästina dann zu britischem Mandatsgebiet. Die Briten haben die wachsende zionistische Einwanderung zunächst befürwortet, unter der Bedingung, „dass nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina beeinträchtigen würde“. Anfangs stieß die jüdische Einwanderung nach Palästina auf nur wenig Widerstand bei den Palästinenser*innen. Die zunehmenden kulturellen und politischen Spannungen führten jedoch irgendwann dazu, dass die britische Mandatsregierung versuchte, die Immigration über Einwanderungszertifikate und -quote zu steuern.
Die Spannungen im Land, sowie die Kosten für Soldaten und Polizisten wurden irgendwann so groß, dass die britische Regierung 1947 ihr Mandat für Palästina aufgab und die „Palästinafrage“ an die UN weiterleitete. Ein Sonderausschuss der UN sollte nun einen Teilungsvorschlag erarbeiten. Die USA und die Sowjetunion unterstützen diesen Vorschlag, der von der Vollversammlung im November 1947 angenommen wurde. Palästinenser und arabische Mitglieder der UN lehnten den Plan ab, und auch von jüdischer Seite wurde es nicht akzeptiert, weshalb Großbritannien 1948 aus Palästina abzog.
Was nun genau 1948 passierte, kann sicherlich sehr detailliert ausgeführt werden. In kurz: der jüdische Nationalrat verkündete die israelische Unabhängigkeitserklärung für das jüdische Volk, aufgrund des Beschlusses der UN-Volksversammlung, und damit die Errichtung des Staates Israel. Sowjetunion und die USA erkannten diesen Staat an, folgende arabische Länder rückten als Folge in die arabisch besiedelten Teile des britischen Mandatsgebietes vor: Ägypten, Jordanien, Irak, Syrien und Libanon.
Es kam somit zum ersten arabisch-israelischen Krieg in Palästina. Die arabische Allianz akzeptierte den UN-Teilungsplan für Palästina nicht und bestritt das Existenzrecht Israels. Der Krieg endete mit einem Sieg Israels und mit Waffenstillstandsverträgen, die Israel 75% des palästinensischen Territoriums zuteilte. Der Gazastreifen viel an Ägypten, das östliche Palästina an Jordanien, Jerusalem wurde geteilt: Westjerusalem ging an Israel, Ostjerusalem an Jordanien. Dadurch, dass die arabische Allianz eine militärische und politische Niederlage einfuhr, wurde die Entstehung eines arabischen Staates in Palästina verhindert, wie es eigentlich im Teilungsplan der UN vorgesehen war. Etwa 750,000 Palästinenser*innen wurden in diesem Zuge aus ihrer Heimat vertrieben. Dieser Teil der Geschichte ist so etwas wie die Ergänzung zu dem Film, den wir gestern noch in der Synagoge gesehen haben. Und eine nicht unwesentliche.
Wir lösen uns irgendwann von dem Buch und beschließen, noch ein bisschen weiter durch die Stadt zu laufen. Nur ein paar Straßen weiter stehen wir auf einmal vor dem Haus des „Dar Zahran Palestinian Heritage Center“. Das hatten wir schon auf der Stadtkarte gesehen. Wir treten also durch einen bunten und hübsch geschmückten Vorgarten in ein altes Haus, wo wir innen von einem netten Mann begrüßt werden, der uns erst einmal Karamell-Bonbons anbietet. Er macht uns außerdem einen Kaffee und bittet uns, Platz zu nehmen.
Wir sitzen also in einem wunderschönen Gewölbekeller-artigen Raum, und bekommen nun erklärt, dass das Haus im Besitz seiner Familie und schon 250 Jahre alt ist. Er sagt, dass er schon viel gereist ist und in jedem Land Museen oder kulturelle Einrichtungen vorgefunden hat, die etwas zu Land, Leute und Kultur des jeweiligen Landes erzählen. Hier in Palästina und (im speziellen in Ramallah) habe er dahingehend noch eine Lücke gesehen, und deshalb beschlossen, das alte Haus aus seinem Familienbesitz der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er hat hier also alles in Eigenarbeit aufbereitet und hergerichtet, und erzählt nun mithilfe von Fotos und verschiedensten Gegenständen vom palästinensischen Erbe.
Er freue sich auch immer über ausländische Touristen, sagt er, um dem Narrativ der terroristischen Araber und Palästinenser etwas entgegenzuwirken, das in der westlichen Welt viel verbreitet ist. Hier in Ramallah habe sich allerdings vieles verändert. Seit der letzten beiden Kriege gebe es zwar keine tägliche Gewalt mehr, aber andere Faktoren, die den Menschen hier das Leben erschwerten. Viele Palästinenser würden wegen fehlender Perspektiven auswandern - sofern ihnen das möglich ist. Die Abhängigkeit von der israelischen Regierung, z.B. bzgl. Strom und Wasser, sei außerdem zermürbend. Wie als Bestätigung geht auf einmal das Licht aus. Stromausfall. Heute aber nur für ein paar Minuten. Manchmal könne das hier Stunden oder auch Tage dauern
Außerdem herrsche hier eine ständige Kontrolle. Die auch zu einem paranoiden Verhalten der Palästinenser*innen selbst führe (davon sind ja selbst Lea und ich nicht verschont geblieben) – fast jedes Haus hier habe Überwachungskameras. Inklusive seinem Haus. Manchmal komme allerdings das israelische Militär und konfisziere das Bildmaterial, wie er sagt. Dagegen könne man nichts machen. Es liegt allerdings auf der Hand, dass die israelische Regierung somit theoretisch und praktisch den Standpunkt von jeder Person herausfinden kann, die sich hier im Land aufhält. Man gewöhne sich daran, sagt er mit einem Schulterzucken.
Er zeigt uns nun noch eine Magnetkarte, die er beantragt hat. Dafür musste er seine Fingerabdrücke abgeben, sein Gesicht scannen lassen und einen bestimmten Betrag zahlen. Wenn er nun eine Genehmigung beantragt, z.B. um nach Tel Aviv zu fahren (also auf israelische Seite), wird die Magnetkarte entsprechend programmiert, und er kann damit die nötigen Checkpoints durchqueren. Um Teile seines ehemaligen Heimatlandes zu betreten, muss er sich mittlerweile also zum gläsernen Menschen machen und dazu auch noch Geld bezahlen. Ob und für wie lange er im Endeffekt eine solche Genehmigung bekommt, ist am Ende meist völlig willkürlich. Welcome to Palestine.
Wir schauen uns schließlich die Ausstellung und die hübschen alten Räume an, gehen etwas essen und setzen uns dann noch gemütlich in eine Shisha-Bar. Der Kellner ist sehr freundlich und kommt schnell mit uns ins Gespräch, auch wenn er fast kein Englisch spricht. Er sei im Gefängnis gewesen, sagt er uns, kurz nachdem er sich vorgestellt und ein paar Fragen zu uns gestellt hat. Lea und ich sind ein wenig überfordert mit der Situation. Sein Freund, dem die Shisha-Bar gehört, kommt ihm zur Hilfe und sie versuchen zusammen, uns die Situation zu erklären. Er hätte Probleme gehabt mit israelischen Soldaten, sagen sie uns. Drei Mal war er deshalb über einen Gesamtzeitraum von etwa drei Jahren im Gefängnis. Das erste Mal mit 14.
Wir können immer noch nicht mit mehr als einem Kopfschütteln reagieren, als er uns Videos zeigt, die ihn als 14-Jährigen zusammen mit einer Gruppe anderer Palästinenser bei der Verhaftung zeigt. In Nablus, der palästinensischen Stadt, aus der er kommt. Man sieht israelische Panzer und Soldaten, die eine Gruppe gefesselter Personen abführen. Natürlich können wir nicht wissen, was davor und danach passiert ist. Dennoch ist es unglaublich, was sich hier auf palästinensischem Boden abgespielt hat und immer noch abspielt. So viel steht fest.
Wir fragen sie, welche Lösung sie für den Konflikt hier sehen. Sie schauen sich an. „Salam“, sagen sie. Friede. Sie seien hier jetzt glücklich, in Ramallah. Es gehe ihnen gut. Und sie wollen einfach nur in Frieden leben. Und das ist es doch, was wir am Ende alle wollen. In Frieden leben. Was für ein hohes Gut das ist, kann man aber wohl nur verstehen, wenn man in einer Welt ohne Frieden aufgewachsen ist.