Salam ya Amman
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About values and ethics.

Veröffentlicht: 28.09.2019

Freitag, 27. September

6:30 am. Der Tag beginnt wie so oft in den letzten Tagen: Schwimmen, Frühstück, Bus zur GJU Madaba. Die Stimmung in der Gruppe ist immer noch angespannt. Ich merke, wie ich es vermeide, Lisa anzuschauen, geschweige denn, mit ihr zu reden. Die Wut, die immer noch in mir steckt, macht es mir gerade unmöglich, ihr neutral gegenüber zu treten. Gleiches gilt auch für Prof. Roßkopf, den wir nun in der GJU treffen, und der bei der Präsentation von Pepa und Eman mit dabei ist. Normalerweise würde ich auf die Fragen antworten, die er nach der Präsentation stellt, aber gerade bin ich nicht dazu in der Stimmung, auch nur ein Wort an ihn zu richten.

Ohne ihn anzuschauen verlasse ich nach der Präsentation den Vorlesungssaal und mache mich mit dem Rest der Gruppe auf dem Weg zum Konferenzsaal, in dem wir in den letzten Tagen schon ein paar Mal waren. Farah und Lisa leiten dort nun einen Workshop zum Thema „Code of Ethics in Social Work“. Meine Motivation, daran teilzunehmen, befindet sich im Minusbereich. Dass gerade sie uns nun etwas von Werten und Ethik gegenüber Klient*innen erzählt, finde ich einfach unendlich ironisch. Ich fixiere während Lisas Vortrag eine Wasserflasche im vorderen Eck des Raumes und hebe meinen Blick erst, als Prof. Roßkopf den Vortrag plötzlich unterbricht. „Are we disturbing you in writing your e-mails?“, höre ich ihn sagen. Alle Köpfe drehen sich zu ihm um. Mein Blick fällt auf Sophia, die mit ihrem Laptop schräg vor ihm sitzt. „I am listening“, reagiert sie, als ich verstehe, dass er sie adressiert hat. Die Boshaftigkeit in Prof. Roßkopfs sonst ruhiger Stimme ist zu hören, als er ihr nun sagt, dass sie ihren Laptop zuklappen soll. Unangenehme Stille. Das imaginäre Spotlight, dass er ganz bewusst auf Sophia gerichtet hat, schwenkt jetzt nun wieder nach vorne, der Vortrag geht weiter.

Ich wende mich wieder der Präsentation zu. Ich will Sophia mit meinen Blicken nicht noch in größere Schwierigkeiten bringen. Vor mir sehe ich drei anwesende Professorinnen und Teilnehmerinnen der GJU, die ebenfalls mit ihrem Laptop beschäftigt sind. Andere haben ihr Handy in der Hand. Man kann es ganz sicherlich kritisch betrachten, dass die Aufmerksamkeit in vielen Konferenzen mittlerweile viel mehr den eigenen Geräten als den Referenten gilt. Sophia derart vor allen anderen bloßzustellen, während sie mitnichten die einzige ist, die der Präsentation vorne nicht ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkt, hat jedoch nichts mehr mit respektvollem Umgang zu tun. Ich versuche, mich nicht in die Situation hineinzusteigern und fixiere wieder meine Wasserflasche. Als sich mein Kopf ein paar Minuten später doch noch einmal zu Sophia umdreht, merke ich, dass sie nicht mehr da ist. „She left“, wispert mir Bara’a ins Ohr.

Mein Gedanken-Karussell fängt sich nun doch an zu drehen. Ich weiß, dass es nun noch mehr Unruhe verursachen würde, nach ihr zu schauen, und rede innerlich auf mich ein, sitzen zu bleiben. Als sie Minuten später immer noch nicht da ist, und Farah vorne nun anfängt zu erzählen, wie wichtig es sei, sich als Sozialarbeiter*innen um das eigene Wohl zu kümmern, reicht es mir. Ich stehe auf und verlasse den Konferenzraum nach draußen, wo mich das helle Mittagslicht blendet.

Ich will gerade um die Ecke des Gebäudes verschwinden, als ich hinter mir Prof. Roßkopfs Stimme höre. „Bleiben Sie bitte hier!“. Seine Wortwahl und sein Tonfall stimmen nicht miteinander überein. Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl. Ich drehe mich zu ihm um. Sage ihm, dass ich nur nach Sophia schauen möchte. „Sie ist alt genug. Kommen Sie jetzt wieder rein.“ Er winkt mit seiner Hand Richtung Tür. „Ich habe das Gefühl, dass es ihr nicht gut geht“, reagiere ich. "Sie kommt schon alleine klar", seine Antwort. „Aber Herr Roßkopf“, ich gehe auf ihn zu. „Das können Sie doch jetzt nicht entscheiden“. Es wäre ihre eigene Schuld, wenn sie sich bei einem Vortrag nicht respektvoll verhalten würde, sagt er mir, als ich nun vor ihm stehe. Die Sonne blendet mein Gesicht. Ich muss die Hand an meine Stirn halten, um ihm in die Augen zu schauen. Meine Stimme bebt jetzt ein wenig, als ich ihm erkläre, dass wir gerade alle sehr durcheinander und erschöpft sind. Dass wir uns nicht mehr konzentrieren können, weil in den letzten Tagen viel zu viele Dinge passiert sind, über die wir mit ihnen als Organisatoren nicht reden konnten. Dass wir uns nicht gehört und missverstanden fühlen, und wirklich am Ende sind.

Ich habe es geschafft. Er hört mir zu. Er gibt mir zwar nicht Recht, oder vermittelt mir das Gefühl, dass er unsere Emotionen nachvollziehen kann. Aber er hört mir zu. Und nimmt sich die Zeit, mit mir zu reden, während drinnen schon die Gruppenarbeit des Workshops startet. Sophia huscht wortlos an uns vorbei. Ich bin erleichtert, sie wieder zu sehen. Prof. Roßkopf verweist mich schließlich darauf, dass wir alles andere später in der gemeinsamen Reflektion der Summer School besprechen können, und wir gehen zusammen wieder in den Konferenzraum. Ich merke, dass sich die Wutgefühle in mir ein bisschen beruhigt haben, und kann ganz normal an der Gruppenarbeit teilnehmen.

Der Workshop ist vorbei und es folgt der nächste Programmpunkt, den ich schon wieder ganz vergessen habe: die feierliche Übergabe der Summer School Zertifikate. Unter der Wiedergabe von Musik dürfen wir alle einzeln nach vorne gehen, wo Prof. Roßkopf und andere Vertreter der GJU bereit stehen, zum Hände schütteln und Zertifikat überreichen, was bei jedem mit einem Bild festgehalten wird. Nach den Turbulenzen der letzten Tage wirkt die ganze Show ein bisschen skurril. Auf der anderen Seite ist es auch schön, wie wir uns gegenseitig feiern und unseren Co-Student Ehre erweisen. Ich finde, wir alle haben Applaus verdient, dafür, wie wir als Gruppe funktioniert haben.

Es geht nun zurück zum Hotel. Nach kurzer Mittagspause dann der letzte offizielle Akt: die Reflektion der Summer School, die Lisa und Prof. Roßkopf leiten. Nachdem ich mir gestern sicher war, dass ich den beiden nichts mehr zu sagen habe, hat mich das vorherige Gespräch mit Prof. Roßkopf tatsächlich ein wenig beruhigt und ich bin gewillt, mir alles von der Seele zu reden, was noch in mir schlummert. Und entgegen meiner Erwartungen bekommen wir auch wirklich Raum dafür. Nachdem wir zunächst anonym alle Themen auf Karten aufschreiben sollen, die uns bewegen, nehmen sich die beiden danach die Zeit, Punkt für Punkt alles durchzugehen, und jede Stimme anzuhören. Und ich kann wirklich alles loswerden, was mich in den letzten Tagen bewegt hat. Es ist ein ungewohntes Gefühl für mich, offene Kritik zu üben. Ich schaffe es jedoch, mit ruhiger Stimme zu erklären, was mich gestört und verletzt hat, und Lisa bei meinem Unmut über ihren „tough talk“ ganz fest in die Augen zu schauen. Und auch alle anderen äußern ganz friedlich ihre Gedanken und negativen Wahrnehmungen der letzten Tage. Auf der anderen Seite wiederholen Lisa und Prof. Roßkopf auch ihre Kritikpunkte in ruhigem und angebrachtem Tonfall.

Nach etwa zwei Stunden ist alles gesagt, was gesagt werden musste. Bei vielen Dingen merke ich, dass ich mit der Meinung der beiden Organisatoren nicht auf einen Nenner komme. Und auch nicht kommen werde. Auf einmal erklingt da aber Hannahs Stimme in meinem Ohr. „Yes, I accept that you see it like that.“

Ich bin in Frieden. Danke, Hannah.

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