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Geht's noch steiler als im Balkan?

Veröffentlicht: 24.10.2023

Hatten wir schon erwähnt, dass ich seit Dezember jeden Abend zittere, wenn ich meine Schlafmatte aufpumpe? Werners Matte hat eine integrierte Pumpe. In meine Matte muss ich die Luft mit einem Pumpsack pressen. Geht einfach und schnell. Nur der fast neue Pumpsack versagte den Dienst. Der Ventileinsatz war nicht richtig verklebt. Der Outdoorausrüster wollte uns Ersatz senden. Allerdings nur an eine Adresse in Deutschland! Was für ein Theater. Geistesgegenwärtig hatte ich kurz vor unserer Abreise als Backup einen uralten Pumpsack eingepackt. Die undichten Nähte beklebten wir in Mexiko mit Panzertape. Ganz langsam und vorsichtig bekomme ich damit Luft in die Matte. Trotzdem jedesmal die Frage: Geht das gut? Oder reißt das betagte Teil?


Inzwischen klappern wir seit Griechenland erfolglos die Outdoorläden ab. Uns ist klar, dass wir vielleicht in Österreich, aber ganz gewiss in Deutschland einen passenden Pumpsack bekommen werden. Deshalb bestimmt dieses vermaledeite Teil unsere Entscheidung für die Alpenüberquerung. Wir nehmen den kürzesten Weg in unser Heimatland: den Alpe-Adria-Trail. Für uns Adria-Alpe-Trail. Gegen den Strom werden wir schwimmen, oder besser radeln.

 

32 km kurz war die Etappe durch Slowenien. Unser Wunsch hier zu übernachten hat sich erfüllt. Im Handumdrehen sind wir an der Grenze zu Italien. Nach Triest, zur Adria, geht es fast nur bergab. Fast 500 Höhenmeter sind futsch. Die müssen wir wieder hoch, und noch viel mehr. Aber erstmal schauen wir uns die mittelalterliche Altstadt an. Werner findet einen Barber. Ich warte draußen und beobachte das Treiben. Geschäftsleute in edlen Anzügen springen aus noblen Karossen. Frauen in bunten, luftigen Sommerkleidern flanieren vorbei. Alte Leute mit Stock und Rollator tasten sich über den schmalen Gehweg. Und ich sitze mit knittriger Bluse, abgewetzter Hose und verschwitzten Haaren neben unseren Rädern. Niemand sieht mich an. Jeder ist mit sich beschäftigt. Vor einer großen Kirche sprechen uns deutsche Radfahrer an. Dass wir mit unseren schwer beladenen Rädern über die Alpen wollen, verstehen sie erst nicht. Doch als sie unsere bisherige Reiseroute hören, trauen sie es uns zu. Sie hatten ihre Räder im Wohnmobil über die Alpen gebracht.


An diesem Abend landen wir in Sistiana, ein paar km hinter Triest, auf einem riesigen Campingplatz. Wir sollen unser Zelt aufstellen und vor der Abreise zahlen. 36 € pro Tag. Ein Pärchen aus Greifswald plaziert neben uns ihr Wohnmobil. Sie zahlen den gleichen Preis. Wie an der Küste in Kroatien gibt es keine günstigen Stellplätze für Zelte. Neben uns campiert auch Uwe aus Bayern in seinem Auto. Aufgewachsen ist er in Mecklenburg-Vorpommern, gar nicht weit weg von unserer Heimat. Inzwischen ist er bei der Bergwacht aktiv und fühlt sich als echter Bayer. Wir essen gemeinsam und haben uns eine Menge zu erzählen. Morgens kurbeln wir zur Rezeption. "Was, wer hat euch ohne zu bezahlen auf den Platz gelassen?" Eine neue Angestellte, die Ärger bekommt. Weil wir uns nicht einfach verduftet haben, nimmt man uns nur 25 € ab. Wir verabschieden uns von der Adria, unser Weg geht nach Norden. Wann werden wir das Meer wiedersehen? Zu Hause. An der Ostsee. Gut 2000 km liegen noch dazwischen. Und natürlich die Alpen. Wir können es kaum erwarten die ersten schneebedeckten Giganten zu erspähen. Wird uns der extrem steile Anstieg zum Tauerntunnel mit Muskelkraft gelingen? Wer weiß. Bis Udine müssen wir keine nennenswerten Steigungen bewältigen. Bei Gemona erreichen wir den gut beschilderten Alpe-Adria-Trail. Viele Radfahrer kommen uns entgegen. Manche mit Minimalgepäck, unter 100 km pro Tag fühlen sie sich unterfordert. Auch viele E-Biker und Pedelec-Fahrer, die von Hotel zu Hotel sausen.


Plötzlich sind die Berge da. Schroffe Felsen, teils schneebedeckt, reißende Gebirgsbäche. Einfach fantastisch. Unser Respekt vor den Alpen wächst von Stunde zu Stunde. Hinter Carnia radeln wir auf einer alten Bahnstrecke. Keine Autos, kaum Wind, angenehme Temperatur, moderate Steigung. Alte Bahnhöfe sind zu Cafés umgebaut. Immer wieder Tunnel und Brücken. Die Aussichten atemberaubend, die Preise für Hotelzimmer auch. Offizielle Campingplätze gibt es nicht. In den Bergen einen wilden Zeltplatz zu finden, ist nicht einfach. Doch kurz vor Tarvisio werden wir fündig. Allerdings verläuft hoch über uns die Autostrada A23. Dafür waschen wir uns im Gebirgsbach und die Aussicht entschädigt den Lärm. Ich laufe abends in den Ort. Was ist denn hier los? Tarvisio wird geschmückt. Frauen befestigen Schleifen und Blumen an jedem Zaun. Giro d'Italia ist der Grund. In ein paar Tagen wird hier eine äußerst steile Bergetappe ausgetragen. Als ich zurück zum Zelt marschiere, steht schon das Starttor. Wir schlafen gut unter der Autostrada. Wenn keine Autos fahren, hören wir den Gebirgsbach rauschen. Am nächsten Morgen rollen wir durch das Starttor für die Bergetappe zum Monte Lussari. Der ganze Ort ist im Giro d'Italia Fieber. Beim Bäcker lassen wir uns den letzten italienischen Espresso schmecken. Ein bisschen wehmütig kurbeln wir zur Grenze. Werden die Österreicher auch so freundlich, interessiert und hilfsbereit sein? Weiter geht es auf Nebenstraßen und durch den Wald. Manche Radler kommen durch einen Tunnel, der für Fahrräder gesperrt ist. Sie riskieren ein saftiges Bußgeld. Die Beschilderung ist verwirrend. Entgegen kommende Radler beschreiben uns eine Straße, um den Tunnel und eine steile Etappe durch den Wald zu umgehen. Allerdings müssen wir nun unsere Räder über eine Absperrung hieven. Viele Radler sind unterwegs, wir helfen uns gegenseitig. Und schon rollen wir über die Grenze: Endlich in Österreich, wo deutsch gesprochen wird. Sehr angenehm, das geben wir zu.


Bald sind wir in Villach und suchen wieder mal ein Outdoorgeschäft. Zwei junge Männer hören unser Gespräch und erklären uns ungefragt den Weg dorthin. Was sind wir erleichtert, die Österreicher sind auch aufgeschlossen und freundlich. Das Geschäft ist schnell gefunden, doch es ist zum Mäusemelken. Matten sind vorrätig, aber keine Pumpsäcke. Frustriert radeln wir zurück und überlegen, ob wir hier auf dem Campingplatz bleiben. Es ist noch früh. Gewitter sind angekündigt. Trotzdem treten wir in die Pedalen. Zwei Tage wird es nun mit moderaten Steigungen durch das Drau- und Mölltal gehen. Weit kommen wir nicht. Der Wetterbericht hat recht. Ein paar km hinter Villach ist der Himmel schon fast schwarz. Wind kommt auf. Umdrehen? Kommt nicht in Frage. Im nächsten Dorf gibt es einen Gasthof mit Zimmervermietung laut Google Maps. Ich rufe an. Sie vermieten schon lange nicht mehr, aber ein paar km weiter, in Kellerberg, wäre eine Pension. Wir kurbeln was das Zeug hält. Donnergrollen und Blitze am Berg. Ob wir trocken nach Kellerberg kommen? Müssen wir gar nicht. Bei Gummern geht eine Brücke über die Drau. Daneben ein Rastplatz mit Bank und Tisch und Wasserstelle. Man kann unter die Brücke flüchten wenn es regnet. Wir wollen unser Zelt gerade auf den Rastplatz stellen, da fallen die ersten Tropfen. Werner kann unter der Brücke zwar nicht aufrecht stehen, aber das Zelt passt dort hin. In null Komma nichts beseitigen wir eine Menge Müll und unser transportables Zuhause steht im Trockenen. Die Wiese neben dem Rastplatz ist im Nu ein kleiner See. Dort wären wir sofort abgesoffen, so schüttet es. Wir sitzen geschützt auf unseren Stühlen und lauschen dem Regen. Nach einer Stunde scheint die Sonne. Glitzernde Wassertropfen hängen an den Grashalmen. Berge tauchen aus dem Dunst auf, Vögel setzen ihr Konzert fort. Ist es ein guter Platz? So mancher würde die Frage verneinen. Hier verbrachten garantiert schon Menschen die Nacht, die kein Zuhause ihr eigen nennen. Und wir, haben wir im Moment ein Zuhause? Wir fühlen uns immer da Zuhause, wo unser Zelt steht. Und unter dieser Brücke ist für uns in diesem Moment der beste Zeltplatz der Welt.


Am nächsten Tag radeln wir bei wechselhaftem Wetter nur gut 40 km bis Spittal. Direkt am Fluss gibt es einen netten Campingplatz. Der Betreiber hat ein Herz für Reisende mit Zelt. Unter einem Dach gibt es Tisch und Stühle. Wir freuen uns über den trockenen Platz und essen gerade, da taucht Nicole aus Köln aus dem Nebel auf. Sie schiebt ihr Rad über die Zeltwiese und setzt sich zu uns. Dann essen wir doch mal gleich zusammen. Nach einer kurzen Radtour an der Mosel nimmt sie gleich die Alpen unter die Reifen. Alle Achtung. Sie rollte heute die Serpentinen runter, die uns mit ihren steilen Etappen im Kopf rumgeistern. Vor ein paar Tagen startete sie in Salzburg. Ihr Auto steht dort auf einem Campingplatz. Da wir in Salzburg zwei Nächte bleiben wollen, sind wir froh über die Zeltplatz-Empfehlung. Wir frühstücken am nächsten Morgen zusammen und Nicole rollt weiter bergab Richtung Adria. Und wir haben schon mal ein paar kurze mächtig steile Abschnitte bis nach Obervellach. Die schweren Räder steil nach oben schieben ist anstrengender als radeln. Aber was zu steil ist, ist zu steil. Die Aussichten sind unglaublich. Es geht durch Wald, nette Dörfer, über gurgelnde Flüsse, vorbei an blühenden Wiesen und nicht zu vergessen die schroffen Felsen. Ab Möllbrücke sind wir im Mölltal unterwegs. Direkt am Fluss liegt der Campingplatz in Obervellach. Wir kriechen früh in unser Zelt, doch schlafen können wir erstmal nicht. Wenn wir morgen den Anstieg zur Tauernbahn nicht schaffen, wer bringt uns den Berg hoch? Gibt es einen Shuttle-Service für Radfahrer? Wir beschließen den Anstieg zu wagen. Sollte es zu steil sein, wird man uns in der Touristen-Informationen bestimmt helfen können. Teils 10 bis 16 % Steigung auf 8,65 km (laut komoot) bis zum Bahnhof sind natürlich eine harte Nummer. Ich schlafe bei der Überlegung ein, dass wir nach den bergigen Balkanländern gut trainiert sind und bisher alles geklappt hat....


Um 9 Uhr morgens kurbeln wir los. Ein paar Meter flach am Fluss, über die Möll-Brücke, dann ist es gnadenlos steil. Nach einem km stoppen wir in einer Einfahrt. Hängen keuchend über die Lenker, trinken hastig, warten bis wir ruhig atmen können. Wenn es so weitergeht macht es keinen Sinn, ist sich Werner sicher. Doch hier schon aufgeben? Die Einfahrt ist fast eben, deshalb kommen wir gut ins Rollen. Wieder einen km im Schneckentempo und ich brülle mit letzter Kraft, dass ich vom Rad muss. Tatsächlich denke ich, Werner fährt mich über den Haufen, wenn ich abrupt bremse. Doch auch er kriecht wie eine Schnecke und wäre keinen Meter länger im Sattel geblieben. Zwei Rennradfahrer schleichen an uns vorbei, als wir erschöpft über die Lenker hängen. Sie heben für uns die Daumen und nicken anerkennend. Oder eher mitleidig? Egal. Zum Glück fahren kaum Autos. Wir müssen erstmal zur anderen Straßenseite rollen, dann ein Schlenker nach rechts auf unsere Spur. Nur so kommen wir wieder bei dieser Steillage in Gang. Noch nie sind wir so langsam bergan geradelt. In Schlangenlinien eiern wir teils unter 4 km/h den Berg hoch. Absolut grenzwertig. Aber wir schaffen immer wieder etwa einen km. Werner ruft hinter mir, wenn wir 100 m geschafft haben. Irgendwie müssen wir uns ja Mut machen. Plötzlich kommen uns mindestens 10 Radler entgegen. Mit einem Affenzahn pfeifen sie den Berg runter und überholen sich mit Jubelgeschrei. Alles klar, jede Stunde kommt die Tauernbahn. Irgendwann stoppen wir an einer Bushaltestelle und lassen uns auf die Bank fallen. Au Backe, unsere Beine fühlen sich wie Pudding an. Gefühlt sitzen wir hier eine halbe Stunde, futtern Riegel und bestaunen die schneebedeckten Berge. Etwa zwei km müssen wir noch bis zum höchsten Punkt schaffen. Jetzt geht's in Serpentinen bergan. Die Steigung sieht von unten gewaltig aus. Doch es nicht mehr ganz so steil. Werner ruft hinter mir in kürzeren Abständen und wir schaffen sogar 1,4 km. Schon wieder kommen uns Radler entgegen, also war die Bahn da. Noch einmal rauf auf die Räder. Eine letzte Kurve, es wird flacher. Was steht da für ein Schild? "HOHE TAUERN Nationalpark-Gemeinde MALLNITZ". Es ist eindeutig der höchste Punkt auf 1180 m. Wir springen umher wie Kinder, reißen die Arme hoch, geben uns high five. 2 Stunden 30 Minuten brauchten wir für knapp 8 km. Dabei bewältigten wir 520 Höhenmeter. Und wir dachten 38 km und 970 Höhenmeter waren schwer, wie auf Baja California. Kein Vergleich zu dieser Strapaze heute. Wir sind total erledigt. Der letzte km zum Bahnhof geht leicht bergab. Erschöpft lassen wir uns im Café nieder und warten auf die Tauernbahn. Immer mehr Autos und Motorräder kommen. Dass wir mit Muskelkraft hier sind, klingt für die Autofahrer erstmal unglaubwürdig. Aber sie finden keinen Motor an unseren Rädern. Und so mitgenommen wie wir aussehen....


Der Zug bringt uns in 11 Minuten durch das verschneite Bergmassiv nach Böckstein. Was für ein Gefühl, bergab zu rollen. Oh, ein kleiner Supermarkt. Wir sind so was von hungrig und verdrücken Leberkässemmeln, Bananen, Schokolade. Satt sind wir noch lange nicht. Wir rollen bis Bad Gastein, beziehen für zwei Nächte ein Zimmer in der Jugendherberge und fallen erschöpft in die Betten. Beim Bäcker futtern wir weiter. Trotzdem schlafen wir abends hungrig ein. Gut erholt wachen wir auf, bekommen ein reichhaltiges Frühstück und fahren mit der Seilbahn auf den Stubnerkogel auf 2246 m. Wahnsinnige Aussichten! Durch Schnee und über eine 140 m lange Hängebrücke stiefeln wir. Setzen uns einfach auf eine Bank, genießen das Bergpanorama und unseren radelfreien Tag. Am nächsten Morgen kurbeln wir durch das Gasteiner Tal. Guter Radweg, kaum Steigungen, Blick auf die Berge. So kann es noch wochenlang weitergehen. Doch bis Salzburg sind es nur noch 100 km. Schon als wir die Salzach erreichen ist es vorbei damit. Tunnel, steile Anstiege und Abfahrten. Vor jeder Kurve klingeln wir, um nicht von entgegenkommenden Radlern über den Haufen gefahren zu werden. Links und rechts Häuser. Davor Schilder mit der Bitte als Radler auf spielende Kindern Rücksicht zu nehmen. Diese Strecke ist einfach nur gefährlich, für Anwohner wie Radfahrer gleichermaßen. Nach Schwarzach geht es auf kaputtem Asphalt steil bergab. Jeder, der uns entgegen kommt, schiebt sein Rad. Hier hilft kein Akku die Steigung zu bezwingen. Hinter Schwarzach wird der Radweg zum Glück übersichtlicher. Was ist das denn? Donnergrollen und Blitze. Und kein versteckter Zeltplatz in Sicht. Doch plötzlich ein Wegweiser: Campingplatz 2 km. Bevor der kurze Gewitterregen einsetzt steht unser Zelt. Sogar auf einer Zeltwiese mit Picknicktable und gemütlicher Hütte. Was für ein Glück wir heute haben. Nette Nachbarn bekommen wir auch noch. Eine Familie aus Bayern radelt nach Süden. Sie bauen ein Tipi auf. Die vier Kinder schütteln ihre Schlafsäcke, pusten die Matten auf, helfen den Eltern beim Kochen. Endlich stürmen sie den Spielplatz. Später sitzen wir gemütlich in der Hütte zusammen. "Wo habt ihr die letzten Tage gezeltet? Campingplätze gibt es nicht viele und Hotels sind für uns viel zu teuer." fragt uns der Vater etwas besorgt. Wir können ihn beruhigen und verraten unsere geheimen Plätze. Neben der Brücke in Gummern und bei Tarvisio unter der Autostrada können sie auf jeden Fall das Tipi stellen. Die Kinder werden begeistert sein vom rauschenden Bach. 


Morgens ist das Wetter wieder gut. Flach geht es an der Salzach entlang nach Bischofshofen. Aber es gibt noch ein paar Höhenmeter. Verschwitzt halten wir an einem Restaurant. Leider Ruhetag. Wir trinken unser warmes Wasser und erholen uns im Schatten. Jetzt geht es durch die beeindruckende Salzachklamm. Links und rechts ragen Felsen senkrecht in die Höhe. Nun noch über den kleinen Pass Lueg auf 552 m und wir rollen nach Golling, wo es an einer Tankstelle endlich kalte Getränke gibt. Salzburg ist in greifbarer Nähe. Die letzten km kurbeln wir durch Wald und ab Hallein wieder direkt an der Salzach. Die Alpen sind Geschichte. Die schneebedeckten Giganten sehen wir nur noch von weitem. Abends bauen wir unser Zelt auf dem Campingplatz Schloss Aigen in Salzburg auf, wo Nicoles Auto steht. Sie kommt morgen mit dem Fahrrad-Shuttle zurück. Gutes Timing, oder? Neben uns steht Martin aus Österreich mit seinem Wohnmobil. Sein Pedelec steht neben unseren Rädern am Zaun. Schnell stellt er sein Rad an sein Auto, dass wir es nicht mehr sehen. "Ihr seid mit Muskelkraft und viel Gepäck über die Alpen gekommen. Mein Pedelec passt nicht neben eure Reiseräder. Das ist mir peinlich." Wir lachen zusammen drüber. Martin ist 65, wohnt auf einem Berg und hat sich gerade das tolle Pedelec gekauft, um sich die Fahrt nach Hause zu erleichtern. Wir finden das gar nicht peinlich. Solange wir es schaffen, radeln wir ohne Motor. Die letzten Tage waren äußerst anstrengend für uns. Mit Motor hätten wir uns bei den Anstiegen nicht so schinden, aber dafür täglich eine Steckdose finden müssen. Und ein klein bisschen stolz sind wir natürlich auch, dass uns die Alpenüberquerung nur mit Muskelkraft gelungen ist. Mit unseren bepackten Reiserädern, Marke Stahlross, gehören wir mittlerweile einer aussterbenden Spezies an. Nicole auch. Schön, dass wir sie morgen wiedersehen.


Auch in Salzburg finden wir keinen Pumpsack für meine Matte. Wir rufen einen großen Outdoorausrüster in München an. Momentan sind wenige Pumpsäcke vorrätig, aber sie können (oder wollen) uns keinen ein paar Tage reservieren. Uns bleibt nur eine Online-Bestellung zur Filiale nach München, um sicher zu gehen. Heiliger Bürokratius! Wir ärgern uns nicht lange, sondern kaufen fürs gemeinsame Kochen abends mit Nicole ein. Am späten Nachmittag steht Nicoles Zelt auf der Wiese. Wir essen gemeinsam Weißwürste mit Brezen und Salat. Martin, unser Nachbar mit dem Pedelec, gesellt sich zu uns. Bis die Sonne hinterm Berg verschwindet sitzen wir zusammen und teilen unsere Stories. Nicole ist begeistert vom Radreisen und wird bald wieder im Sattel sitzen. Martin freut sich, dass er jetzt mühelos die Berge erklimmt. Und wir sind skeptisch, was uns in unserem Heimatland Deutschland erwartet. Eine Menge hat sich in den Monaten unserer Abwesenheit verändert. Vieles wurde teurer, die Stimmung sei nicht gut hörten wir oft. Was uns wohl morgen erwartet, wenn wir in Bayern ankommen?


Zu unserer Überraschung empfangen uns die Oberbayern sehr freundlich. Es gibt Gespräche überm Gartenzaun oder mit anderen Radlern. Und immer wieder die Frage: "Wo kommt ihr denn her? Ihr seht aus, als wenn ihr schon länger unterwegs seid." Zugegeben. Ein bisschen abgerissen sehen wir inzwischen aus. Meine Haare struppig von Sonne und Salzwasser, Werners Bart zu lang, die Klamotten verwaschen und löchrig. Die Radtaschen geflickt und ausgeblichen. Irgendwie haben wir ganz schön Reisepatina angesetzt. Den ersten Abend in Bayern landen wir in einem Wald. Es gibt nur Glamping- und nicht Campingplätze. In Rosenheim treffen wir doch tatsächlich Martin wieder, unseren netten Nachbarn vom Campingplatz in Salzburg. Vor München gibt es doch noch einen netten Campingplatz mit Badesee. Wir bleiben zwei Nächte, da der Pumpsack noch nicht eingetroffen ist. Mitten in München können wir bei netten jungen Leuten über 1nite-tent unser Zelt aufstellen. Die beiden sind auch Reiseradler und kamen gerade aus Kasachstan. Was für ein schöner Abend. Am nächsten Morgen radeln wir zum Outdoorausrüster. Und unglaublich, der Pumpsack ist da. Übrigens bekomme ich damit auch Werners Matte im Handumdrehen voll Luft. Abends fühle ich mich wie eine Weltmeisterin im Matten aufpumpen. Was für eine Erleichterung!


Wir kurbeln nach Norden, durch hübsche Orte. An der Donau spendiert man uns auf einem Wochenmarkt Haxe und Brezen. Sehen wir jetzt auch noch ausgehungert aus? Bestimmt nicht, unsere transportable Küche ist immer gut gefüllt. Wir radeln an Tauber und Main wieder nach Frankfurt. Treffen nochmal Freunde und Verwandte. In Burg-Gräfenrode sind wir über 1nite-tent an einer Pfadfinderhütte verabredet. Da Unwetter angekündigt ist, dürfen wir in der urigen Hütte schlafen. Und richtig, Werner wird beinahe von einem herab stürzenden Ast getroffen. Im Zickzack hangeln wir uns an Flussradwegen Richtung Heimat. Sind an Lahn, Ohm, Wohra, Eder, Fulda und Weser unterwegs. In Hameln biegen wir nach Osten ab und radeln zu Freunden nach Hildesheim. Bei Braunschweig empfehlen uns nette 1nite-tent Gastgeber den Städtepartnerschaftsradweg Braunschweig-Magdeburg. Gute Idee, dann nehmen wir ab Magdeburg den Elberadweg unter die Breitreifen. Die Landschaft hat sich mittlerweile verändert, die Menschen auch. Sie sind nicht mehr ganz so freundlich und aufgeschlossen. Wir sind im Flachland angekommen, die letzten nennenswerten Anstiege gab es im Kellerwald und an der Weser. In Magdeburg sehen wir uns in Hundertwassers Grüner Zitadelle um. Der Elberadweg macht richtig Spaß, wir haben oft Rückenwind. Bei Sandau verlassen wir die Elbe und nehmen den kürzesten Weg nach Wittstock zu meinem inzwischen 90-jährigen Vater. Wir sind so erleichtert, ihn gesund wiederzusehen. Als wir uns nach drei Tagen verabschieden, kommt unsere Freundin Bärbel plötzlich um die Ecke. Klar, sie hatte uns ausgefragt wann wir endgültig Richtung Heimat starten. Kurzerhand meldet sie uns bei ihren Freunden in Parchim an, wo wir eine Nacht freundlich aufgenommenen werden. Von dort fahren wir zu unserem Freund Rüdiger nach Schwerin. Er war gerade zum Nordkap geradelt. Gutes Essen, Reisestories - was für ein schönes Wiedersehen. Nun trennen uns nur noch ein paar km von Wismar, nach fast 11 Monaten und 10.000 km im Sattel. Frau Vogt vom Wismarer Blitz empfängt uns am nächsten Tag mit der Kamera in der Hand am Markt. Sie veröffentlichte jeden Monat unsere Reiseberichte, wie während unseres ersten Sabbaticals 2016/2017. Familie und Freunde sind da. Unsere kleine Enkelin Jette, noch keine vier Jahre alt, hat uns nicht vergessen. Sie springt uns in die Arme. Später beim Bäcker futtert sie mit Omas Fahrradhelm auf dem Kopf Kuchen. Auch Sabrina aus einem Nachbardorf ist mit ihrem Jüngsten gekommen. Wir lernten sie und ihre Familie in Mexiko kennen. Die Welt ist ein Dorf, hier ist der Beweis. Unsere Freunde Bärbel und Norbert schmückten mit viel Liebe unsere Wohnung. Bärbel hat für jedes bereiste Land ein Blatt gedruckt. Und Norbert verlieh uns ganz feierlich den selbst gebastelten Prosecco-Globetrotter-Pokal 2023. Unseren Nachbarn Monika und Hans-Peter verdanken wir, dass unsere Zimmerpflanzen immer noch grün sind. Zum zweiten Mal übrigens. Am Meer sind wir auch wieder, nach 2300 km seit der Adria in Italien.

 

Danke an alle, die uns das Ankommen erleichtert haben. Losfahren ist einfacher. 


Fast jeder will wissen, ob wir neue Reisepläne haben. Zweifellos. NACH DER REISE IST VOR DER REISE.



 


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