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Welcome to America!

Veröffentlicht: 02.09.2021

Die Ankunft in Denver ist unerwartet unkompliziert: Niemand will unseren Antigen-Test sehen, die Schlange vor der Passkontrolle ist kurz und nach zwei Fragen nach dem Aufenthalt in Mexico und unseren Absichten in den Staaten auch schon erledigt. Die akustische Untermalung von American Natives Gesängen mit den entsprechenden Bildern verschiedener Stämme begleiten uns durch die Korridore, was irgendwie bizarr anmutet – eine ernstgemeinte Hommage?

Wir erfahren, dass ein Zug alle 15 Minuten ins Zentrum fährt. Der Flughafen ist weit ausserhalb der Stadt und wir fahren durch steppenähnliche Landschaft Denver entgegen. Bei der Union Station angekommen suchen wir nach der richtigen Buslinie um zur West Colfax Street zu kommen. Letztendlich besteigen wir eine andere Zuglinie, da die Wartezeiten und das Umsteigen per Bus sehr wahrscheinlich länger dauern würde. Schon die Zugfahrt und die 20 Minuten Fussmarsch zum Hotel zeigen uns die unglaublich vielfältigen Gesichter der USA. Von Obdachlosen über gesprächige Yogalehrerinnen, Leuten die sich von Drohnen verfolgt fühlen (und uns das auch mitteilen) bis hin zum sehr scheuen asiatischen Frontdesk Manager des Motels ist schon mal eine Menge dabei. Das Hotel ist vergleichsweise teuer (100 Dollar pro Nacht für eine Absteige wie aus den Holliwoodfilmen), etwas schmuddelig und von einer Vielzahl unterschiedlichster Charaktere bevölkert, die alle auf ihre eigene Art und Weise am Rande der Gesellschaft stehen. Die Gegend ist wirklich nicht sehr einladend und nach Mexiko ein ziemlicher Kulturschock. Wir suchen uns online ein Thai-Restaurant das ca. 10 Minuten zu Fuss neben Walmart liegt. Das Essen ist sensationell gut und wir schauen hoffnungsvoll unserem Autokauf Marathon für Morgen entgegen.

Die Nacht geht ohne grosse Komplikationen vorüber, einmal davon abgesehen das Roman von Bedbugs gebissen wurde und ziemliche grosse Hügel auf dem Rücken spazieren trägt. Da wir vom Hotel nicht begeistert sind, checken wir aus und zügeln zum nächstgelegenen Hotel, das von aussen sauberer wirkt. Auch hier prallen Welten aufeinander: Gegenüber vom Hotel haben viele Randständige ihr Lager auf einem brachliegenden Grundstück aufgeschlagen. Wir warten leider vergeblich auf die Besitzerin. Währenddessen bringt uns eine Frau zwei Wasserflaschen vorbei: es sei heiss und sie hätte uns warten gesehen. Auch probieren Bekannte der Besitzerin sie zu erreichen, was aber fehlschlägt. Somit bleibt uns nichts anderes übrig als zurück zu unsrem alten Hotel zu gehen. In der Zeit während ich wieder einchecke macht Amelia Bekanntschaft mit Bill, einem Alkoholiker, der 5 Türen weiter einquartiert ist. Er möchte sogleich in unser Zimmer kommen um uns „einen Tribute“ wie er sagt zu überreichen. Er händigt uns 50 Dollar aus, die wir unter keinen Umständen ausschlagen dürften und wünscht uns „Welcome to America!“. Wir reichen Schweizer bekommen Zustupf in unsere Reisekasse von jemandem der das Geld wohl selber dringender nötig hätte. Die beiden Erlebnisse, die Frau mit dem Wasser und Bill stimmen uns sehr demütig. Sowas haben wir von wildfremden Menschen in der Schweiz noch nie erlebt.

Natürlich versuchen wir auch uns eine Sim-Karte zu besorgen. Dies ist leider schwieriger als angenommen. Die US-amerikanischen Netzanbieter beziehen keine europäischen Phones ein. Wir müssten uns dementsprechend ein Smartphone kaufen, dann eine SIM plus Guthaben. Das ist uns dann doch zu blöd und deswegen bleiben wir beim Wifi jagen in Cafés und Restaurants.

Nach dem unsere Rucksäcke wieder in unserem alten Zimmer verstaut sind, machen wir uns auf die zahlreichen Auto Sales an der West Colfax Strasse abzuklappern. Es ist brütend heiss, und vor uns liegen ca. 6 km Strasse mit etwa 30 Autoverkaufsbuden…. Los geht’s!

Unterwegs brüten wir darüber, wie wir uns bei Bill erkenntlich zeigen könnten, beziehungsweise etwas Zeit mit ihm verbringen könnten. Da wir nicht wissen, was er mag (ausser Alkohol und auch da gibt es ja verschiedene Geschmäcker…) entscheiden wir uns für ein unverfängliches 6er Pack lokales Bier. Die Idee: sobald wir den Zuschlag für ein Auto haben, gehen wir mit ihm anstossen.

Am Ende unseres Auto-Marathons haben wir einen Favoriten gefunden: einen weissen 2010 Dodge Grand Caravan. Ideal um drin zu schlafen, gross genug um Taschen und Essen zu verstauen, angenehm zu fahren da er von den „grossen Strassenschiffen“ her immer noch zu den kleineren gehört. ;)

Wir machen eine Testfahrt mit unserem Verkäufer Vincent auf dem Rücksitz. Vincent ist sehr zurückhaltend, höflich, geduldig und nimmt sich viel Zeit für uns und unsere Anliegen. Wir bringen das Auto zu einer anderen Garage für einen raschen Check. Dabei stellt sich heraus, dass der Wagen doch das eine oder andere Problem hat, welches früher oder später repariert werden muss. Wir fotografieren die Befunde und gehen zurück zum Verkäufer. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder sie flicken fast alles, zahlen 500$ weniger und können dafür erst am Montag losfahren oder wir nehmen den „Charren“ wie er ist, dafür gibt es 1000$ Reduktion und wir können gleich los.

Wir entscheiden uns für Variante 2.

Nach schier endlosem Papierkram (Roman hat noch nie so oft etwas unterschrieben) gehört der Dodge uns! Yes, Freude herrscht!

Völlig euphorisch, dass wir unseren Plan verwirklichen und innerhalb von 8h ein Auto kaufen konnten, kehren wir zu unserem Motel zurück.

Bill steht schon auf dem Balkon vor seinem Zimmer und wir realisieren, dass er schon ziemlich betrunken ist. Dennoch möchten wir uns mit ihm und seinem Kollegen Robert unterhalten und uns nochmals bedanken. Bill ist gut gelaunt, freut sich über unsere Geste und erzählt uns aus seinem bewegten Leben. Da er wie gesagt bereits angeheitert ist, redet er ein bisschen lauter als normal – ist aber noch weit vom Schreien entfernt. Ausserdem ist ca. 17 Uhr und „quiet Hours“ sind im Motel von 9pm – 9am. Wir denken uns also nichts dabei, als wir im einen Zimmer nebenan rumpeln und fluchen hören… plötzlich fliegt die Tür auf und ein Mann steht in der Tür, schreit Bill an und meint er solle verdammt nochmal leiser reden. Und da passiert’s: Bill macht den Fehler und geht auf den Mann zu, meint ER solle doch sein verdammtes Maul halten. In dem Moment streckt der Mann seinen Arm aus und spritzt Bill eine volle Ladung Pfefferspray aus nächster Nähe direkt ins Gesicht. Die Flüssigkeit läuft Bill über den Hals und Oberkörper, sein Gesicht sieht aus, als hätte man ihn in Betadine getränkt. Die Tür fällt sofort wieder ins Schloss, Robert rettet sich zur Seite weg um Atem zu finden, Roman stand etwas näher an Bill und hat auch Pfefferspray abgekriegt, holt aber geistesgegenwärtig einen Wasserkanister aus unserem Zimmer. Gemeinsam versuchen wir Bill zum Sitzen zu animieren und Waschen ihm das Gröbste vom Spray aus dem Gesicht. Die Gase sind so stark, dass ich würgen muss und mir schon die Tränen in die Augen getrieben werden. Überall juckt es grausam. Man stelle sich vor wie es Bill geht mit der Masse an Spray direkt im Gesicht…. Nicht auszudenken!

Ich bleibe bei Bill, versuche ihm zu helfen währenddessen Roman zur Reception rennt um den Manager zu bewegen die Polizei zu rufen. Endlich kommt Bills Frau zurück mit dem Zimmerschlüssel und er kann sich hinlegen. Eine Angestellte bringt ein mit Milch getränktes Tuch, das lindert das Brennen.

Der Manager will nichts davon wissen. Und als wir sagen, dass wir nicht 2 Türen neben einem Irren mit niedriger Aggressionsschwelle schlafen wollen, hält er schlicht die Quittung ans Plexiglas: einmal bezahlt, no refund. Na toll!

Als wir zurück zu unserem Zimmer kommen, stehen vor der Tür des Täters 2 Polizisten. Da Bill auf ihn zuging, war die Attacke „Notwehr“. Wir sprechen am Ende auch noch mit den Beiden „als Zeugen“ des Vorfalls. Sie meinen, so einen ruhigen und netten Täter hätten sie selten. Da tritt Bill aus dem Zimmer, gewaschen und sauber. Gegenüber den Polizisten verneint er aber Opfer einer Pfefferspray-Attacke geworden zu sein. Er streitet alles ab und benimmt sich daneben. Anscheinend will er lieber gar nichts mit der Polizei zu tun haben. Verrückte Welt!

Geschockt, traurig, gelähmt suchen wir das Weite. Wir erholen uns vom Schock im Thairestaurant in dem wir schon gestern Abend waren, einfach eine tolle Küche!

Ohne viel Schlaf und immer etwas nervös wegen unserem vermutlich aggressiven Zimmernachbar endet die kurze Nacht früh und wir verlassen Denver so schnell wie möglich, ohne nochmals Bill`s Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, welcher auch schon wach ist und auf dem Gelände herumlatscht.

An der Tankstelle quatscht uns noch ein mit irgendwelchen Drogen vollgepumpter Typ an, das wars dann mit Denver und seinen Schattenseiten. Wir sind wohl schon etwas verwöhnte Wohlstandkinder und Gutmenschen, aber uns haben diese Seiten von Denver geschockt und traurig gemacht.

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