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Der Wilde Kogel

Veröffentlicht: 01.12.2017

Etwas ängstlich hänge ich an der Wand und schaue auf den Schnee bedeckten Gletscher unter mir. Puh, besser nicht runter sehen!

Kalter Wind weht mir ins Gesicht und ich ziehe den Kragen meiner dünnen Jacke fester zu. Rico ist bereits einige Meter weiter auf den nächsten Vorsprung geklettert. Die Höhe macht ihm weit weniger aus als mir. Bereits früh am Morgen haben wir das warme Bett verlassen, ein karges Frühstück auf der Badener Hütte zu uns genommen und uns auf den mehrstündigen Klettersteig zur Kristallwand begeben. Gleich am Einstieg wurde unser Können auf die Probe gestellt. Nur ein paar Eisensprossen ragen aus dem überhängenden Felsturm. Rico turnt hinauf als wäre es ein Sonntagnachmittag Spaziergang. Grinst mir von oben freudestrahlend entgegen und wartet geduldig bis sich meine Amygdala wieder etwas beruhigt hat.

Ich atme tief ein und wage den ersten Schritt. Der schmale Metalldorn der aus der Wand ragt fühlt sich kalt und rau in meiner Hand an. Mein Fuß kippelt unsicher hin und her und findet keinen rechten Halt. Wieder einmal frage ich mich was um alles in der Welt mich hierher getrieben hat. Ich fühle mich gerade in etwa so Wohl wie ein Yak am arabischen Golf. Dieser Gedanke treibt mir ein Schmunzeln ins Gesicht. Und ich setze vorsichtig einen Fuß nach dem anderen, eine Hand nach der anderen, immer drei Punkte am Fels, wie es mir mein Vater beigebracht hat...

Schließlich erreiche ich die obere Kante, schwinge mich hinauf und erblicke ein atemberaubendes Panorama auf die umliegenden Berge. Nun weiß ich wieder warum ich hierher gekommen bin!

Ich setze meinen Weg fort und folge dem schmalen eisfreien Grat in Richtung Gipfel. Die Route ist gut gesichert, ich brauche mich nur mit meinem Karabiner, der über eine Bandschlinge an meinem Gurt befestigt ist, in das Stahlseil einzuklicken. Klick! Mit jedem Meter schwindet die Angst, die Luft ist kühl und klar.

Stunde um Stunde klettern wir über Felstürme, hangeln uns am Abgrund entlang, passieren Felsspalten. Zum Mittag haben wir den Gipfelanstieg erreicht. Eine seichte Kuppe führt die letzten Meter hinauf. Die Sicherung ist hier nicht mehr notwendig. Dann stehen wir am höchsten Punkt auf über 3.300 m. Die Ostwand führt über 600 m senkrecht hinab auf den Gletscher, entlang dessen Moräne wir am Vortag aufgestiegen sind. Gegenüber freie Sicht auf den Großvenediger, der majestätisch in den stahlblauen Himmel ragt. Uns umgibt eine unglaubliche Stille, unterbrochen nur von dem knirschenden Gestein unter unseren Füßen.

Während ich die Aussicht und die wohltuenden wärmenden Sonnenstralen im Gesicht genieße, gerade darüber nachdenke mein Pausenbrot auszukramen, hat Rico wieder nur Sch** im Kopf. Mit beiden Fußspitzen steht er an der äußersten Kante der Ostwand und macht lautstark seine Schwindelfreiheit bekannt. Natürlich ungesichert. Als ich ihn anschreie, ob er noch ganz dicht sei und was dabei passieren könne, grinst er mich nur mit seinem lausbübischen Grinsen an, was ich unter anderen Umständen wohl ganz attraktiv gefunden hätte. Schließlich tritt er von der Kante weg und setzt sich zu mir ins karge Gras. Schweigend beißen wir in unser Wurstbrötchen und genießen abermals die Stille und die Aussicht.

Der Abstieg führt uns auf gleichem Weg hinunter. Erneut probiert Rico einige Stunts, bei denen er sich über Abgründe mit maximaler ihm möglicher Akrobatik hinaus lehnt. Ich weiß nicht, was mir heute mehr Angst einjagt, die Höhe oder der Gedanke, mich allein abseilen zu müssen. Puh! Kopfkino.

Schließlich haben wir es ohne größere Zwischenfälle wieder auf die Badener Hütte geschafft. Schon komisch, was eine einzeln stehende Hütte mitten in den Bergen für ein Sicherheitsgefühl gibt. Hinunter ins Tal ist es eine weitere Tagestour. Der dicke Hüttenwirt gibt Auskunft, dass ein anderer Weg hinauf ins Tal und über einen weiteren 3.000-er ebenso zu unserem Ausgangspunkt führt. Wer gut zu Fuß sei, könne dies in ca. 5 Stunden gehen.

Wir machen uns auf den schönen Panoramaweg hinauf ins Tal. Auf den Wiesen stapft hier und da eine Kuh an uns vorbei oder liegt faul dösend in der Sonne. Wir steigen an einem Wasserfall ab, queren ein Flusslauf und folgenden den rot-weißen Wegmarkierungen zum Wildener Kogel. Schon bald jedoch löst sich der ausgetretene Pfad auf, verzweigt sich zunächst in kaum noch erkennbare Spuren und verschwindet schließlich ganz zwischen Geröll und Grasinseln. Blöd. Wir sind bereits zu lange unterwegs, als dass sich ein Umkehren noch lohnen würde.

Also Karte rauskramen, letzte Wegmarkierung suchen. Grobe Richtung anpeilen. Weiter vorn machen wir die nächste Markierung aus, sie führt uns über Feldböcke in der Größe eines Kleinwagens, die wir auf allen Vieren überklettern. Mich überkommt mal wieder ein ungutes Gefühl. Warum ich aber auch immer so schrecklich nervös sein muss! Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass die Zeit rennt. Umgekehrt proportional zur noch verbliebenen Wegstrecke. Mist! Ich hatte eigentlich keine Lust, eine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen.

Der nächste Felsblock steht zwischen mir und der angepeilten Richtung. Es ist einfach kein Vorankommen. Vorsichtig schiebe ich mich außen entlang, an ihm vorbei und umklammere ihn dabei mit beiden Armen. Plötzlich ein Ruck und das Ding kippt auf mich zu! Mit einem Satz rette ich mich auf den nächsten Fels, der Stein kippt zurück in seine ursprüngliche Position. Mein Herz setzt für einen Moment aus.

Als ich zu Rico am Ende des Geröllfeldes aufgeschlossen habe, bin ich blass wie ein Gespenst. Immerhin ist der Weg wieder erkennbar. Wir sind am Fuße des Wildener Kogels - Wilder Kogel hätte es besser getroffen, wie sich im folgenden noch heraus stellen sollte. Zunächst geht es in gemächlichem Anstieg hinauf. Die Sonne ist inzwischen hinter den Gipfeln auf der anderen Talseite verschwunden. Nicht lang und es wird immer steiler. Schließlich verläuft sich auch hier der Weg zwischen losem Schiefergeröll. Innerlich stoße ich einen Fluch auf den dicken Hüttenwirt aus.

Der Untergrund ist lose und immer wieder zieht es uns die Füße weg. Laut Karte geht es direkt über den Berg hinüber und auf der anderen Seite wieder hinunter. Da ohnehin kein Weg in Sicht ist, schlagen wir schließlich direktissima die Route zum höchsten Punkt ein. Dabei bewegen wir uns wieder auf allen Vieren. Inzwischen ist es so steil geworden, dass wir mehr klettern als gehen. Rico zieht als erster einen Stein aus der Wand. Immer wieder bricht der brökelige Schiefer aus. Nun bin ich mir ziemlich sicher: Der dicke Hüttenwirt hat in seinem ganzen Leben keinen Fuß hierauf gesetzt!

In der Dämmerung erreichen wir schließlich den Gipfel. Zum zweiten Mal an diesem Tag stehen wir auf über 3.000 m. Doch anders als am Vormittag können wir uns gerade nicht besonders über die sich bietende Aussicht freuen. Die andere Seite geht noch steiler hinab. Uns trennen ca. 2.000 Höhenmeter vom Ziel. Und noch immer kein Weg in Sicht. War das beim Aufstieg schon blöd, so ist es nun bedingt durch die Perspektive noch ungünstiger, da von oben betrachtet nicht einzuschätzen ist, wie das Gelände abfällt. Auf der Karte machen wir einen Übergang aus, der sich weiter westlich von unserem Standort befinden muss. Von diesem aus sollte sich dann ein Weg nach unten finden lassen.

Immerhin geht dieser Plan auf. Relativ schnell lassen wir die ersten Höhenmeter auf dem Abstieg hinter uns. Inzwischen ist es fast dunkel, abgesehen vom schwachen Schein unserer Kopfleuchten. Weiter unten haben wir vom Gipfel aus zwei Seen ausgemacht und so folgen wir einem Wasserlauf, der sich schon bald in einem kleinen Wasserfall seinen Weg hinab bahnt. Bei dem Versuch, am Rand entlang abzusteigen, rutsche ich auf dem glitzschigen Untergrund aus und schliddere ein paar Meter hinab. Bringe aber trotz der grotesken Situation in die wir uns wider besserem Wissens manövriert haben nur ein Lachen zustande. Rico folgt mir mit nicht viel mehr Eleganz.

Als wir die Seen erreichen zeigt Ricos Kopfleuchte nur noch ein dunkles Glimmen. Natürlich befinden sich die Ersatzbatterien im Zelt. Also schalte ich meine Flugfeldbeleuchtung einen Gang zurück, falls es noch länger dauert. Wir überqueren eine Kuhwiese. Im Dunklen sind die dicken Löcher auf der Weide nicht zu erkennen. Und mal wieder verlieren wir den Weg. Insgesamt 20 min erkunden wir jedes weiß reflektierende Etwas auf der Wiese, in der Hoffnung, eine Wegmarkierung zu finden. Und bleiben nehmen dabei so ziemlich jedes Loch mit. Am Ende rettet uns erneut ein kleiner Bachlauf, der uns - Gott sein Dank - zu einer dicken Waldautobahn und sicher durch den letzten steilen Abschnitt hinunter führt.

Gegen halb elf Uhr nachts erreichen wir schließlich - auf der anderen Seite eines Stracheldrahtzaunes - unser Auto. Ich bin selten nach einem so ausgiebigen Tag in der Natur so froh, wieder in die Zivilisation zu kommen. Am nächsten Tag gilt unsere erste Tat dem Kauf eines Biwakschlafsacks. Dieser ist seither fester Bestandteil meiner Ausrüstung. In dieser Nacht hätten wir es wohl ohne Weiteres auch ohne überstanden, das Thermometer zeigte +15 Grad Celsius.

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