Veröffentlicht: 02.10.2024
So ein Tag am Meer ist immer aufregend.
Sei es die Einrichtung der Verteidigungslinie gegen blutrünstige Mücken, sei es das Auffinden ganzer Schiffswracks inklusive Kreissäge kurz vor der Rhône-Mündung, sei es die schweißtreibende Verbannung des hartnäckigen Sandes aus den heimischen Ritzen. Immer gibt es kleine Abenteuer zu erleben.
Heute erfahren wir, dass der Kanton Bern die Herbstferien eingeläutet hat. Familie Schweizer-Kelly reist mit bunt bemaltem VW-Bus an und die vier Halbstarken dürfen erst mal kreischend, quietschend und jubelnd mit dem kleinen Wohnmobil quer über den Strand rasen, solange sie das Gaspedal mit den Füßen erreichen. Wir staunen, dass sie den Bully nicht im Sand festsetzen, zielsicher immer um Haaresbreite an den weichen Stellen vorbei. Respekt!
Dann übernimmt aber Papa Schweizer-Kelly wieder das Ruder.
Ich verliere die Wette, dass der Bus mit dem Gepäckträger auf dem Dach nicht durch das Zwei-Meter-Tor passt.
Scheinbar haben pfiffig-renitente Franzosen den Sand der Durchfahrt schon ein paar Zentimeter untergraben. Ich schätze, nächstes Jahr kommen wir mit dem Wohnwagen auch drunter durch.
Einige Stunden Strandvergnügen später, kehrt die lustige Familie aus den Tiefen des Plage Napoléon zurück. Die vier Kids haben es sich auf dem Dach des Fahrzeugs bequem gemacht.
Das Törchen naht. Papa hält an.
Die Beobachter staunen und überlegen, wie die Vorgehensweise sein wird. Springen die jungen Leute vom Dach? Klettern sie auf dem Bus über die Sperre? Geben sie Zeichen, dass die Fahrt frei ist?
Nichts passiert, die zwei Mädchen und zwei Jungs sitzen obenauf und lassen Papa einen schönen Mann sein.
Der fährt dann einfach los. Und dengel-bumms-rumpel krachen alle vier vom Dach!
Auweia! Die ganze Strandgemeinschaft hält vor Schreck den Atem an. Dann laufen alle los, Erste-Hilfe-Kisten unter den Armen, Schlimmstes befürchtend. Was, wenn jede Menge Knochen gebrochen sind? Was, wenn überall literweise Blut fließt? Was, wenn auch nur eins der Kinder unter dem Auto oder an dem Dachgepäckträger eingeklemmt wurde und Unmengen Gliedmaßen überall wie vergessenes Strandgut verstreut liegen?
Verheerende Bilder vor Augen, kramt auch Zappa unser grünes Verarzteset aus dem Kangoo.
Doch bevor wir als geschulte Ersthelfer den Tatort erreichen, sitzen alle sechs Schweizer-Kellys wieder in ihrem bunten Bus. Größere Blessuren können wir wohl ausschließen, nur die Stimmung ist eindeutig nicht mehr so ausgelassen und die Köpfe hängen runter, aber wenigstens sind sie noch dran.
Heute gehen wohl alle mal früh ins Bett...
Am Nachmittag dieses sonnigen Tages frischt der Wind auf. Die Kiter reisen an und gegen Abend vollführen sie beeindruckende meterhohe Sprünge über die, mittlerweile für mediterrane Verhältnisse ansehnlichen Wellen.
Das Lüftchen pustet immer kräftiger und rüttelt und schüttelt an unserem Mistral.
Die Wetterapps berichten von 30kmh, in Böen 60kmh. Dann haben wir gerade Dauerböen, denn die Wohnwagentür lässt sich nur noch mit größter Anstrengung und unter Einsatz des gesamten Körpergewichts öffnen. Die Mücken sind nun endgültig vertrieben.
Zum Abendessen sitzen wir im gemütlichen Caravan und freuen uns mal wieder, jetzt nicht vor der Räuberhöhle unter einer wild im Sturm flatternden Plane unsere Mahlzeit einnehmen zu müssen. Wie geschützt, heimelich und behaglich wir es doch in unserem wunderbaren Elddis haben!
Draußen heult der Südostwind wie ein wildes Tier, die Wellen türmen sich immer höher, das Mittelmeer tobt und brüllt, als wäre es der Nordatlantik. Uns kümmert das nicht, wir haben es warm und sicher im Mistral und so langsam breitet sich Bettschwere aus.
Nachdem wir mit drei Handgriffen die Schlafkoje eingerichtet haben, lauschen wir noch einen Moment dem Getöse um uns herum.
Zappa überlegt nun laut, wann die Flut aufläuft und wie stark der Wind heute Nacht noch werden würde.
Noch einmal befrage ich die WetterApp, Flut ist erst um 4:00 Uhr Morgens, Böen sollen auf 80kmh auffrischen.
Der Tidenhub beträgt hier lächerliche 30cm, aber wir haben schon erlebt, wie Wohnwagen aus einem komplett überspülten Plage Pièmanson von Treckern aus dem Sand und knietiefen Wasser geschleppt werden mussten.
Bedenken machen sich breit.
Ohnein - ohnein - ohnein! Jammere ich: was wenn das Meer uns in der Nacht im tiefsten Schlaf überschwemmt, der Sturm am Ende unser mobiles Heim umpustet, wir in den Wassermassen mutterseelenallein auf uns gestellt sind und am Ende elendig verdursten, weil niemand jemals wieder zu uns gelangen kann? Ohnein - ohnein - ohnein!
Verhungern müssen wir nicht, versucht Zappa mich zu beruhigen, denn wir haben Nudeln, Reis und Couscous für Monate an Bord.
Schlafen kann ich jetzt jedenfalls nicht mehr.
Die Vernunft siegt. Zur finsteren Nachtstunde kehren wir im Licht der 10 Kilometer entfernten, hell und haushoch lodernden Gasfackeln der Raffinerie in Fos-sur-Mer zur Strandeinfahrt zurück und beobachten jetzt, wie schon die ersten Wellen auf das Land schwappen.
Am Morgen sind die 2,5km Strandpiste fast komplett zugelaufen.
Fast. Unser Platz vom gestrigen Abend ist noch trocken, doch der Weg dahin ist knietief überflutet und unerreichbar.
Manchmal ist es eben doch gut, dass ich ein bisschen jammern kann...