Veröffentlicht: 23.02.2024
An dem ersten Tag auf dem Fahrrad nach der Kletterpause reisste ich einen Kilometer nach dem anderen. Ich fühlte mich wie ein Adler auf der Jagd, so wie ich zwischen den Bergen auf den Talstraßen an den Dörfern vorbeizichte, nur das ich nicht auf der Jagd nach Tieren der niedrigen Nahrungskette, sondern nach dem Ortsschild Thalangs war. Der Ort an dem ich mich Abends mit Katja treffen wollte und wo mich ein großes vegetarisches all you can BBQ erwarten sollten. Meine Illusion der Raubtieranalogie wurde lediglich ab und zu zerstört, wenn ich mein Spiegelbild in den Glasfronten der vereinzelten Häuser sah. Die Reflektion erinnerte mich vielmehr an die Eule, die ich vor 4 Jahren im Spätherbst beim joggen im Wald fand. Aus dem Nest gefallen, zitternt, nass und hilflos. Und genau so wie die Eule ohne meine Hilfe zielsicher dem erlischen des Lichtes näher gekommen wäre, so musste ich auch akzeptieren, dass auch mein Drahtesel eben kein Spitzenrad war und langsam die ersten Anzeichen der Resignation zeigte. Die Kette fing an alle 10 Sekunden zu springen und zu blockieren, was mich verdammt frustrierte, bis ich eine kleine Werkstatt fand, bei der mich der Inhaber herzlich begrüßte und sofort wusste was falsch sei und wie man es beheben konnte. So wie ich die Eule aufpäpelte, reparierte er meine Fahrrad um noch so viele Kilometer wie möglich raus zu holen. Nach der Reperatur war ich zwar immer noch auf der wackligen Eule unterwegs, bildete mir aber sofort wieder ein das ich auf einem Pegasus-Fahrrad dahin glitt.
Der erste richtige Berg presste jede Schweißperle aus mir und ließ mich wieder an die Alpenüberquerung denken. Oben angekommen entwisch meiner Kehle ein Freudenschrei und ein Gefühl des Wohlbefindens, als der Fahrtwind mir meine überflüssige Wärme über den Schweiß durch Konvektion entzog. Die letzten Kilometer machte ich noch ein wenig Quatsch auf dem Fahrrad und übte akrobatische Tänzelein auf dem Rahmen und Sattel.
Als ich abends in Thalang ankam, stand dort zu meiner Überraschung auch noch Stuart, ein 66 jähriger Kanadier, den ich mit Katja zuvor kennenlernte und der sich abgesehen von der Altersdifferenz keineswegs von den anderen Backpacker*innen unterschied. Wir alle liebten Stuart. Er ist eine lebende Motivation, sich dem steigenden Alter und den damit einhergehenden kognitiven und physischen Verfall nicht zu ergeben, sondern schon früh damit anzufangen da gegen anzukämpfen. Die gesunde Lebensweise Stuarts, durch seine Ernährung und seine sportlichen Tätigkeiten führten mit der Beibehaltung des Verlangens nach Abenteuer, Spontanität und Offenheit zu dem besonderen Mensch der er ist. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal Nachts in Laos mit einem 66 jährigen zu Techno tanzen würde :D
Wir hatten einen sehr schönen Sonnenuntergang und stopften uns am BBQ so voll bis uns allen übel war, was mein erster Versuch war mein Kaloriendefizit anzugehen. Während ich der Gruppe ein neues Kartenspiel beibrachte, erhielt ich eine E-Mail die mich vollkommen unerwartet überrumpelte, sodass ich ersteinmal überlegen musste ob ich gerade vielleicht doch nicht träume. Ich zwickte mich mehrmals, überprüfte die Existenz und Validität der E-Mail dutzende mal an und fing in meinem Tunnelblick an zu zittern, weinen und zu grinsen. Der Grund, warum die E-Mail so extrem unerwartet kam war, weil mir die Johannes Gutenberg-Universität Mainz eigentlich schon einen Ablehnungsbescheid für das Sommersemester 2024 zukommen ließ, aufgrund dessen ich mir einen kompletten Plan für ein weiteres halbes Jahr Reisen erstellte, mich mental darauf vorbereitete und schon Flüge nach Hongkong und Taiwan buchte. Und jetzt las ich allen Ernstes dass ich doch zugelassen wurde.
Das Ziel, welches ich seit meinem 16. Lebensjahr anstrebte und so viel drum kämpfen musste, lag jetzt plötzlich abends in Laos beim Kartenspiel auf meinem Handy. Alles wirkte unfassbar surreal. Ich teilte den anderen mit was gerade passiert sei und sie schossen gleich alle auf um mir zu gratulieren und mich in den Arm zu nehmen. Besonders bei Katja und Stuart konnte ich richtig spüren, dass sie sich für mich richtig mitfreuten. Als die Runde sich gegen 23 Uhr langsam auflöste, war jegliche Erschöpfung des Tages verschwunden und die Aufregung und Freude quellte bei mir immernoch über. Ich fing an meine Familie und Freunde anzurufen und freute unfassbar mich ihnen endlich diese Nachricht mitteilen zu können. Ich stellte mir diesen Moment seit Jahren vor, wie ich all diese Menschen anrufe und ihnen sagen kann, dass ich es endlich geschafft habe. Alle freuten sich unfassbar für mich und vorallem hieß es jetzt dass ich endlich mit meiner Cousine Lena zusammenziehen konnte. Aufgrund meiner Schlaflosigkeit bis 4 Uhr nachts, verbrachte ich die Zeit damit, mich schoneinmal um die Rückreise zu kümmern, mich über Kindergeld, BAföG, die Uni und allem anderen zu informieren und darüber nachzudenken, wie sich die Sachen immer zum guten wenden, wenn man nur mit Passion und Ehrgeiz dabei ist. Am nächsten Morgen wachte ich mit einem riesigen Grinsen auf, überprüfte meine E-Mails erneut um auszuschließen, dass ich wirklich nicht träumte und buchte dann den Rückflug. Katja, Stuart und ich verabschiedeten uns herzlich und ich freute mich jetzt schon die warmherzige und liebevolle Katja in Thailand wiederzusehen.
An diesem Tag war ich mit meinen Gedanken auf dem Fahrrad nur bei all den Sachen, die jetzt auf mich zukommen würden und der spontanen Veränderung der Pläne. Da ich auf einer Strecke unterwegs war, die viele Touristen als Motorradloup fahren, flitzten an mir immerwieder Menschen auf Rollern vorbei, die in die motivationsspendenen Gesten der Einheimischen mit einstimmten. Tatsächlich war ich dann doch so flott, dass ich die selben Menschen an den selben Rastpunkten und Sehenswürdigkeiten auf der Strecke traf und wurde so schnell als der verrückte und flotte deutsche Fahrradfahrer unter den ca. 20 Backpackern bekannt.
Am nächsten Tag wollte ich die Kong Lor Höhle besuchen, zu der man 45 Km hinfährt und den selben Weg wieder zurückfahren muss. Da ich da aber wenig Lust drauf hatte, entschied ich mich es mal per Anhalter zu versuchen und fuhr so mit ca. 6 verschiedenen Laoten auf ihren Träkern, Rollern, Motorrädern, Autos und Lieferwagen zu der Höhle. Dort lernte ich ein holländisches Pärchen kennen, mit denen ich mir ein Boot mietete um durch die 7Km lange Höhle durchfuhr. Die Höhle zieht sich durch einen kompletten Gebirgszug, bei dem Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Jahren die riesige Dimension der Höhle erodierte und eine der vermutlich coolsten Bootsfahrten ermöglichte die man sich vorstellen kann. Nach der Ankunft in dem Ausgangsdorf schwingte ich mich dann noch schnell aufs Fahrrad um den bevorstehenden Berg noch vor der Dunkelheit zu bezwingen, da ich damit morgens in der Früh nicht starten wollte. Als mir dann auf der Hälfte des Berges meine Kette mehrfach rausfiel und mein Reifen platzte, sank die Sonne in ihrem immer orangeneren Schein hinter den Bergen richtung Westen. Ich entschied mich hier meine Hängematte aufzuschlagen und dann lieber noch mein Fahrrad zu reparieren, was sich als Tortur herausstellte. Mein Ersatzschlauch platzte beim ersten aufpumpen, die Flicken auf dem Schlauch wollten einfach nicht reichen und meine Luftpumpe fing spontan an überall poröse Stellen zu bekommen, die ich versuchte mit Kleber zu decken. Auch wenn es der absolut beste Kleber war den ich jemals besaß und ich den Schlauch der Luftpumpe damit einschmierte, war immer irgendwo eine Leckage. Als ich den Kleber kaufte, fiel mir ein Tropfen auf meine Hose, welcher an dieser Stelle dann sofort anfing zu dampfen und der Klebertropfen sich durch die Hose ätzte und selbst meine Epidermis darunter wegätzte. Binnen Sekunden war er steinhart und ich würde schwören, dass er direkt von NASA kommt, wo mit ihm die ISS instand gehalten wird.
Als die Dunkelheitheit mich einhüllte lag ich dann in meiner Hängematte mit Hunger (weil ich es nicht zum nächsten Dorf schaffte), dem kaputten Fahrrad und sah in der Ferne einen Waldbrand. Nachdem ich diesen aber für ungefährlich einschätzte, schlummerte ich langsam mit dem roten Fleck in der Ferne ein, während die ersten Regtropfen die ich seit Wochen sah neben mir auf den Boden fielen. Zum Glück hatte ich eine Überdachung über meiner Hängematte und so wurde ich nur partiell nass und wachte ab und zu durch den peitschenden Regen, Donner und den vorbeibretternden Lkws auf.
Am nächsten Morgen schaffte ich es irgendwie mein Hinterreifen noch mit einem Minimalvolumen aufzupumpen, welches mich über den nächsten Berg und ins nächste Dorf brachte, wo mir dann ein Mitarbeiter einer Autowerkstatt meinen Reifen mit einer elektronischen Luftpumpe wieder prall füllte. Ich entschied mich, jetzt nicht mehr im Westen Laos zu fahren, sondern eine Route durch das Zentrum zu nehmen, welche mich durch noch abgelegenere Ortschaften und durch die Berge bringen sollte. Das mir diese Entscheidung im Nachhinein zum Verhängnis werden sollte wusste ich noch nicht, als ich mir meine Essensvoräte an der entscheidenden Kreuzung aufstockte und die ersten Berge hoch schwitzte.
Nach 80 Kilometern legte ich dann meine erste Essenspause ein und sah vor mir einen Kaukasier am Tisch sitzen der mich genau so verwundert betrachtete wie ich ihn. Ich lächelte ihn an und nach kurzer Verarbeitung entgegnete er es. So traf ich den 60 jährigen US-Amerikaner Greg, welcher als Professor für südostasiatische Kultur an einer Universität in New York tätig ist, Lao spricht, momentan mit dem Fahrrad durch die abgelegenen Landteile Laos fährt und es dokumentiert um Daten für die Universitätsbibliothek zu sammeln. Ein netter, ruhiger, introvertierter aber charmanter Mann, der mich auf seinem Rennrad und seinen 60 Jahren wie ein postcovid Patient, der gerade seine Rehabilitation anfängt, aussehen lassen hat. Ich beneidete ihn um seine Grundfitness und seine Flexibilität so eine Reise locker zu machen.
Am kommenden Morgen war es dann soweit. Das teilweise fixierte linke Pedal war am vorherigen Abend die letzte Ankündigung und Atem meines Drahtesels. Der Reifen war am Morgen wieder komplett platt und das Pedal war vollkommen starr. Meine Möglichkeiten waren durch unzureichende Vorbereitung gleich null und die nächste Kleinstadt, in der ich mit starken Optimismus auf einen Fahrradladen hoffen konnte war 250km entfernt. Ich überlegte nicht nach meinen Optionen, ließ Meister Hora stehen und hielt meinen Daumen raus. Nach knapp 1000km endete die Tour doch recht abprupt. Es verhielt sich wie mit der Morbidität und Verletzlichkeit alter Menschen. Der degenerative Prozess verlief langsam und schleichend und dann kam ein normalerweise leichtes Trauma, welches die Kettenreaktion des rapiden Verfalls einleitete, welcher ohne fachmännische Behandlung das Ende bedeutet.
Der Wechsel von der Autonomie und Freiheit mit dem eigenen Fahrrad zu der vollkommenen Abhängigkeit auf andere Menschen und der Ungewissheit wie der Tag verlaufen wird war sehr interessant und auch nicht ganz so einfach. Meine Route, die ich mit dem Fahrrad nehmen wollte, konnte ich auch nicht nehmen, da sie mich durch so unbewohnte Landstriche führte, wo meine Chancen eine Mitfahrmöglichkeit zu finden gleich null waren. So musste ich letz endlich einen Umweg von zusätzlichen 150 km nehmen um meine Chancen zu erhöhen, was auch ziemlich gut funktionierte. Ich verbrachte die nächsten zwei Tage meist auf der Ladefläche von Träkern, Jeeps und Transportern, wo ich mich manchmal auf Heu ausruhen konnte und manchmal zwischen einzelnen Autobestandteilen zerquetschen lassen musste. Gesellschaft leisteten mir dabei manchmal Hünhner, Enten, Schweine und Hunde die mit mir quickend, jaulend oder kackernd durchgeschüttelt wurden. Da die Straßen immer schlechter wurden und der Staub mehr wurde, fühlte sich mein Körper nach den zwei Tagen so an als ob ich leichtsinnig in den Ring gegen Mohamed Ali gestiegen war und meine Feinstaubbelastung für die nächste Dekade bereits gedeckt war. Ich dachte viel über die Abgabe von Kontrolle nach, las nach Möglichkeit, hörte mein Medizinhörbuch und lernte zur Vorbereitung auf das Studium dir ersten Grundzüge zellulärer Prozesse und metabolischer Komponenten.
Es war nicht nur das Ende der Fahrradtour, sondern auch das Ende des richtigen Abenteuers für meine Asienreise. Es war die beste Entscheidung die ich hätte treffen können. Denn jetzt bin ich wieder in der Zivilisation unterwegs, wo das Leben einfach und unkompliziert ist und ich weiß, dass es auch so bis zu meinem Rückflug in drei Wochen bleiben wird.
Ich habe sehr viel in dem letzten halben Jahr über mich herausgefunden, aber eine Sache die mir jetzt mit dem Abschluss dieser Sache nocheinmal und eindeutig klar wurde, war dass ich jetzt weiß was für eine Art des Reisens ich bevorzuge.
Wenn ich seit zwei Wochen ungeduscht bei 37 Grad mitten in der Pampa einen Berg hoch radel, mein Klappergestell den Geist aufgibt, ich nicht weiß wo ich meine nächsten Mahlzeiten oder Wasser bekomme fühle ich mich lebendig.
Wenn ich bei -15°C im Himalaya an Gletschern Vorbeiwanderer, die Sauerstoffkonzentration nur noch 65% der auf nn beträgt und ich Schnee essen muss weil mein Wasser gefroren ist, dann spüre ich das Blut durch mein Herz pumpen, wie es dieses System antreibt.
Wenn ich in Indien auf so fundamental kulturelle und moralische Unterschiede treffe, dann komme ich an die Grenzen der Verständnis und bekomme am Ende vielleicht eine neue Perspektive.
Und wenn ich wieder und wieder nach diesen Erfahrung aktiv suche, mich in 'unsichere' Bedingungen begebe und jedes Mal mit einem Grinsen, mehr Wissen und noch größerer Abenteuerinteresse heraus komme, so weiß ich wer ich bin, was mich ausmacht und was mich antreibt.