Litauen ist ein Staat im Aufbau. Das erkannte man an jeder Ecke. Viele Institutionen staatlicher Souveränität wirkten frisch und unverbraucht: Polizei, Post, Telekommunikation, Infrastruktur. Vor allem das Bahnnetzt hinterließ bei mir einen Eindruck, als wären Zügen, Anzeigetafeln, Ticketsystem usw. gerade erst geschlüpft. Die wenigen kurzen Bahnkilometer innerhalb des kleinen Landes wurden mit einer vermeintlichen Professionalität bedient, die ihres gleichen suchte.
Dabei darf man nicht vergessen, dass das Land bis 1990 fest in das sowjetische, bzw. vorher zaristische Bahnnetz integriert war und entsprechend auf Minsk und Moskau ausgerichtet war. Auch die Spurbreite der Schienen war mit der in Westeuropa nicht kompatibel.
Meine gebuchte "Direkt"verbindung nach Warschau war daher auch mit einem Zugwechsel im litauisch-polnischen Grenzort Mockava verbunden.
Bei aller Professionalität hinsichtlich der Zugabfertigung blieben Fehler dennoch nicht aus. So wurden Platzreservierungen während des ersten Fahrabschnitts doppelt vergeben. Mein Sitznachbar, ein junger Litauer, kommentierte dies damit, dass die europäische Moderne nur in der Hauptstadt zu spüren sei. Im Rest des Landes sähe es anders aus.
Mit dem Projekt Rail Baltica hatte es sich die EU zur Aufgabe gestellt, den Bahnverkehr der gesamten Region neu zu ordnen und die baltischen Staaten auch infrastrukturell von Moskau zu lösen und unter Umgehung der Enklave Kaliningrad an Westeuropa anzubinden: ein Jahrhunderprojekt.
Nicht uninteressant: da der Streckenführung durch die sog. Suwalken-Lücke eine strategische Bedeutung beigemessen wird, fließen auch Mittel aus dem Militärbereich in den Bahnausbau.
Dass die Rail Baltica-Arbeiten im vollen Gange waren, spürte ich vor allem während der Fahrt im polnischen Grenzgebiet. Mit Minimalgeschwindigkeit schlich unser Eisenross durch die Landschaft, vorbei an Bahnsteigbaustellen, zwischengelagerten Schienen und Schwellen.
Erst ab dem polnischen Białystok nahm die Reise (endlich!) an Fahrt auf.
Soweit die Außensicht. Im Zug selbst teilte ich mir mit vier Mitreisenden ein Sechserabteil. Eine Schicksalsgemeinschaft für die Reisedauer von beinahe neun Stunden, in denen es hieß: Blickkontakt, Beinfreiheit, Frischluftzufuhr, Geräuschpegel u.ä. so zu managen, dass allen geholfen war. Der lettischen Mutter mit ihrer etwa 16jährigen Tochter, dem britischen Touristen sowie dem türkischen Herren, der noch bis zur Endhaltestelle nach Krakau weiterfuhr.
Als wir Warschau gegen 21 Uhr erreichten machte sich bei unserer schweigsamen Reisegruppe auf Zeit Erleichterung breit, Aufatmen.
Insgesamt fraß die Fahrt mit der Bahn über Memel, Bug und Weichsel mehr Zeit als die vergleichbare Tour mit dem Bus. Der Ausbau des Autobahn- und Straßennetzes war in den vergangenen Jahren sehr viel schneller vorangekommen als der Ausbau der Schiene. Eine Entwicklung, die vertraut wirkt, leider.