Salam ya Amman
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Umm Hayan.

Veröffentlicht: 02.11.2019

Freitag, 1. November

8 am. Nachdem ich mich am Morgen noch ein wenig mit meinem neuen Laptop beschäftige, treffen am Vormittag Jesús und Markus bei uns ein. Uns wurde von der FH in Würzburg angeboten, von Jordanien aus über Skype an einer Recht-Vorlesung teilzunehmen, die unsere Kommiliton*innen dieses Semester in Würzburg besuchen. Auch wenn ich das Angebot wirklich gerne wahrnehmen würde, befürchte ich, dass das zeitlich knapp wird. Momentan wachsen mir die Uni-Sachen durch meine zweiwöchige Laptop-Pause ohnehin über den Kopf. Zum Glück müssen wir nicht direkt entscheiden, ob wir Vorlesung und dazugehörige Klausur in Angriff nehmen wollen, und ich treffe mich danach erst einmal mit Shawqi.

Shawqi ist unser palästinensischer Kommilitone, der unser Uni-Programm an der GJU leider abbrechen musste. Nachdem er für einige Zeit bei seiner Familie in Palästina war, ist er jetzt wieder in Amman und auf Job-Suche. Er zeigt mir ein sehr gutes lokales Restaurant im sonst von internationalen Lokalen geprägten Weibdeh, in dem wir ein klassisches und unheimlich leckeres arabisches Frühstück zu uns nehmen. Es ist doch immer gut, mit ortskundigen Leuten unterwegs zu sein – ich bin hier auf dem Weg zu Sophia schon ganz oft daran vorbeigelaufen, hätte mich allerdings niemals in dieses unscheinbare Lokal verirrt. Nach einer kleinen Privat-Arabisch-Stunde in einem süßen Café bringt Shawqi mich dann zum Paris Circle, an dem Sophia schon auf mich wartet. Wir beide folgen heute einer Einladung von Umm Hayan.

Umm Hayan („Umm“ hier die Bezeichnung von Mutter, also „Mutter von Hayan“, sowie „Abu“ am Anfang eines Namens für „Vater von...“ steht), ist eine Syrerin, die wir letzte Woche beim Créme-Workshop bei Tarabot kennengelernt haben. Sophia und ich saßen mit ihr an einem Tisch und sie hat uns zu sich eingeladen, ohne dass wir viel mit ihr kommuniziert haben (wegen bekannter sprachlicher Hürde). Die Tatsache, dass zwei ihrer Söhne mittlerweile in Deutschland leben, hat bei ihr genug Sympathie uns gegenüber hervorgerufen, um uns zum Essen zu sich nach Hause einzuladen. Wie wir es geschafft haben, mit ihr den Termin und die Details abzuklären, ist eine andere Geschichte, und nur zu glauben, wenn man mit eigenen Augen dabei war. Als ich Shawqi jedenfalls kurz davor die location von Umm Hayans Wohnung auf Google Maps gezeigt habe, hat er verhalten reagiert und mir versucht, auf eine sehr vorsichtige und respektvolle Art und Weise zu sagen, dass diese Nachbarschaft nicht gerade die sicherste Gegend von Amman sei. Er bietet uns an, zusammen mit einem Freund einen Shuttle-Service für uns zu übernehmen, falls es Probleme mit dem uber geben sollte.

Zunächst einmal nicht: Im sicheren uber-Taxi sitzend bekommen Sophia und ich bald eine Vorstellung davon, was Shawqi gemeint haben könnte. Nachdem wir an Tarabot vorbei tiefer nach East Amman fahren, wird der Müll auf den Straßen mehr, die Häuserfassaden schmutziger, und uns fällt auf, dass die meisten der Läden an den Straßenrädern am heutigen heiligen Freitag ihre Jalousien geschlossen haben. Ein Zeichen dafür, dass dies eine eher konservative Wohngegend ist. Nach etwa 20 Minuten fährt unser uber-Fahrer nun eine steile Straße hoch und bleibt an einer kreuzenden Querstraße stehen. „Hun?“ („Hier?“), fragt er. Sophia und ich schauen aus dem Auto. Dies ist die location, die Umm Hayan uns bei Google Maps geschickt hat, aber die genaue Hausnummer wissen wir auch nicht. Wir entschließen uns für die einfachste Lösung, rufen Umm Hayan an und drücken dem uber-Fahrer das Handy in die Hand. 

Nach einem kurzen Gespräch klopft dann ein älterer Mann aufgeregt an unser uber. Er trägt ein langes Gewand und winkt uns freudestrahlend zu. Umm Hayans Mann. Wir steigen also aus und folgen seinem schnellen Schritt zu einem naheliegenden kleinen Haus. Wir gehen durch ein kleines Tor die Treppen vor dem Haus hinunter und sehen Umm Hayan schon unten vor der Kellerwohnung stehen. Freudestrahlend ist untertrieben. Sie kann es gar nicht abwarten, ihre Arme um uns zu schließen und uns Küsse auf unsere Wangen zu drücken. „Ahlan, ahlan!“, sagt sie dabei immer wieder, was „Willkommen!“ heißt. Mit weit ausholenden Handbewegungen bittet sie uns dann in ihre Wohnung. Nach einem kleinen Eingangsbereich stehen wir dann in einem etwa 15 qm großen Raum, der der Hauptteil der Wohnung auszumachen scheint. Wir sehen von dort eine kleine Küche und ein Schlafzimmer abgehen. Die ganze Wohnung ist mit einem lila-gemusterten Teppichboden ausgelegt. Hier im Wohnzimmer liegen zahlreiche flache Sitzkissen an den Wänden, am Ende des Raumes steht ein kleiner Tisch auf dem Boden, an der Wand hängen ein Fernseher und eine Uhr. Ansonsten keine Einrichtung. 

Wir sind nicht einmal Umm Hayans Aufforderung gefolgt, uns um den kleinen Tisch zu setzen, als sie uns auch schon ihr Handy in die Hand drückt, mit dem sie gerade ihren Sohn Hayan per Videocall angerufen hat. Hayan wohnt mit seiner bald achtköpfigen Familie in Stuttgart und spricht in recht gutem deutsch mit uns. Seine Kinder schauen neben ihm sitzend schüchtern in die Kamera, während Umm Hayan neben uns immer wieder mit wilden Gesten und lauten arabischen Sätzen für Leben sorgt, derweil sie aufgeregt zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und herläuft. Ihr Mann gibt uns dann irgendwann zu verstehen, dass es jetzt Essen gibt, und platziert eine Plastiktüte voller Softdrinks auf dem Tisch. Umm Hayan bringt dann das Essen: Tabbouleh, eine Art Salat aus Petersilie, Tomaten und Bulgur, außerdem Kibbeh. Und davon nicht zu wenig. Kibbeh sind eiförmige Klöße aus Bulgur, die mit einer Hackfleisch-Zwiebel-Nussmischung gefüllt sind. Umm Hayan nimmt uns nun ihr Handy aus der Hand und gibt uns mit einem „Yallah!“ zu verstehen, dass wir anfangen sollen.

Das Essen schmeckt wirklich unglaublich lecker und Sophia und ich beeilen uns auch, das Umm Hayan mitzuteilen, die uns erwartungsvoll beim Essen zuschaut. Sie zückt außerdem wieder einmal ihr Handy und macht Fotos und Videos von uns, die sie an ihre Kinder schickt, wie sie uns mitteilt. Ihre Kinder, das sind vier Söhne und zwei Töchter. Zwei der Söhne leben in Deutschland, einer im Sudan und einer in Kuwait. Von ihren Töchtern lebt eine in Kuwait und die Jüngste hier in der Nähe von ihr in East Amman. Ihr Mann ist in Syrien im Krieg gestorben. Die Witwe ist mit ihren drei Kindern zurückgeblieben, von denen einer nun zu uns in die Wohnung kommt. Er heißt Ahmed und ist 12 Jahre alt. Er begrüßt uns schüchtern und setzt sich dann mit sicherem Abstand auf ein weiter entferntes Sitzkissen. Umm Hayan beschäftigt sich derweil immer noch mit ihrem Handy und hält uns immer wieder ein anderes ihrer Kinder per Videocall vor die Nase, die wir alle winkend und mit den immer gleichen Sätzen begrüßen. Für mich ist die ganze Situation ein wenig überwältigend, und ich bin froh, als Umm Hayan eine kurze Handypause einlegt, und wir ihre Köstlichkeiten in ruhigerer Atmosphäre genießen können. Seit 7 Jahren wohnt sie nun hier mit ihrem Mann, erzählt sie uns. Aus Homs kommen sie. „Homs!“, sagt sie, greift sich an ihr Herz, und atmet einmal tief durch. Dann fängt sie völlig unerwartet an zu weinen.

Sophia und ich halten mit Kibbeh in der Hand inne. Umm Hayan schüttelt schluchzend ihren Kopf und ich verstehe aus dem, was sie sagt, dass sie ihr Zuhause vermisst. Ich spüre einen Stich in meinem Herz, fühle mich überfordert und hilflos, und muss meine eigenen Emotionen zurückhalten. Wie muss sich diese Frau hier fühlen, die mit ihren Kindern und zahlreichen Enkelkindern eigentlich eine riesige Familie hat, und jetzt doch alleine mit ihrem Mann hier lebt, in einem fremden Land . Seit sieben Jahren. Jeden Tag davon mit der Hoffnung, irgendwann wieder nach Hause zurückzukehren. Und doch wird dort nichts wieder so sein, wie es einmal war. „Wir hoffen, dass du irgendwann wieder zurückgehen kannst“, formuliert Sophia auf arabisch, was Umm Hayan mit einem „In sha Alla“ kommentiert – so Gott will. Dann fängt sie sich wieder und sagt uns, dass wir weiteressen sollen, um nicht mehr traurig zu sein. Das Gefühl der Hilfslosigkeit bleibt.

Nachdem wir irgendwann vor öligen Kibbeh bald platzen, räumt Umm Hayan das Essen weg und bringt uns Kaffee und Schokolade. Währenddessen macht sie immer wieder Fotos und Videos und ruft abwechselnd ihre Söhne und Töchter in Deutschland und Kuwait an. Sie fragt außerdem nach Fotos von Sophias und meinen Eltern und sagt uns, dass sie nun unsere Mutter hier in Jordanien ist. Und wir jederzeit bei ihr zu Hause willkommen sind. Ihr Mann will dann auch direkt wissen, wann genau wir das nächste Mal kommen. In ein paar Tagen? In einer Woche? Sophia und ich sind immer noch ein wenig überwältigt von der ganzen Situation. Vielleicht in zwei oder drei Wochen, sagen wir. Umm Hayan und ihr Mann sind zufrieden, und wir beschließen, uns nun ein uber zu bestellen. Zeit zu gehen.

Wir machen zum Abschluss noch ein paar Bilder mit ihr und sie gibt uns noch eine Dose Kibbeh in einer Plastikdose mit. Außerdem sprüht sie zum Abschied Unmengen von ihrem Parfüm auf Sophia und mich . Mit Umm Hayan in der Nase und im Herzen machen wir uns dann im uber zurück nach Amman Zentrum. Es wird noch ein wenig dauern, bis ich das hier alles verarbeitet habe. 



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