Veröffentlicht: 13.05.2017
Görlitz, die östlichste Kleinstadt Deutschlands, über eine Brücke geschwisterlich mit der polnischen Stadt Zgorzelec verbunden. Görlitz, die Stadt der über 3000 denkmalgeschützten Bauten aus der Spätgotik, der Renaissance, dem Barock und der Gründerzeit. Eine Stadt, die es einem anonymen Spender wert war, für den Glanz ihrer architektonischen Schätze Millionen von Euro zu spenden. Bestimmt auch Görlitz als Filmstadt „Görliwood“, deren epochale Vielfalt als Filmkulisse national und international preisgekrönter Produktionen diente.
Görlitz muss eine Reise wert sein. Unbedingt. In meiner ostwestfälischen Heimatstadt steige ich in den IC, der mich zunächst zum Berliner Ostbahnhof bringt. Von hier aus übernimmt die Ostdeutsche Eisenbahn die Weiterfahrt bis Cottbus. Mit einem letzten Umstieg in Cottbus werde ich Görlitz erreichen. Streichholzzarte Birken und Kiefern säumen die Wegstrecke, wechseln sich ab mit Weide- und Nutzflächen. Manchmal hält die Bahn. Aber nicht an jedem Bahnhof, Bedarfshaltestellen gibt es auf dieser Strecke. Ausgestiegen werden darf nur nach Knopfdruck. So pendelt die Bahn nach einer guten Stunde gemütlich im Görlitzer Bahnhof ein. Die schmucken Decken der Eingangshalle entführen mich in die Zeit der Entstehung. Der Görlitzer Bahnhof wurde im Jahre 1847 eröffnet.
Als erfahrene Bahnfahrerin begeistern mich Städte, deren Bahnhöfe zentral in der Innenstadt gelegen sind. Man steigt aus dem Zug, erblickt die nahe Altstadt, nimmt Platz in einem der zahlreichen Cafés - bevorzugt im Freien- und taucht ein in die Eigenart der Stadt und ihrer Menschen.
Auch Görlitz lässt einen eintauchen. Anders. Die Berliner Straße verbindet den Bahnhof mit der Altstadt. Hier reihen sich prachtvolle Gründerzeithäuser wie Perlen aneinander. Die großzügige Breite der Straße lädt ein stehen zu bleiben und den Blick schweifen zu lassen. Verweilen sollte das Auge bei den Fassaden und Giebeln, denn im Erdgeschoss bieten allbekannte Ketten ihre Waren an. Eine betulich tuckernde Straßenbahn rundet das Bild.
Nach einem Kilometer Fußweg über Berliner Straße und Demianplatz kündigt sich mit der Kaisertrutz, eine 1490 errichtete Bastei zum Schutz der Stadt, die historische Altstadt an. Den Namen Kaisertrutz erhielt das „Reichenbacher Rondell“ 1641. Zu dieser Zeit besetzten schwedische Truppen das kleine Görlitz und „trotzten“ gegen die näher rückenden kaiserlichen und sächsischen Truppen. Heute präsentiert hier die „Galerie der Moderne“ Kunst aus dem 19. Und 20. Jahrhundert.
Auf dem Kopfsteinpflaster verlangsamen sich meine Schritte. Spätestens jetzt muss ich mich näher mit den Stilepochen der historischen Bauten beschäftigen : Gotik? Renaissance? Barock? Jugendstil? Wann war denn das noch einmal?
Vom Obermarkt führt die Brüderstraße über den Untermarkt zur Neißstraße, die, wie der Name schon andeutet, direkt zur Neiße führt. In diesen Straßen und ihren abzweigenden Nebenwegen nehmen meine Augen die Schönheit und Vielfalt der historischen Bauten wahr.
Zurück zum Anfang. In enger Nachbarschaft zur Kaisertrutz steht der Reichenbacher Turm. In ihm vereinen sich zwei Stilepochen. Sein quaderförmiger Unterbau von 1376 und der zylindrische Turm von 1485 sind wohl der Gotik zuzuordnen, während eine barocke Haube an seiner Spitze sitzt.
Die Epoche der Renaissance bringt Farbe ins Bild.
In einem der schmuckvollsten und ältesten Renaissancebürgerhäuser Deutschlands ist heute das lohnenswerte Schlesische Museum untergebracht, der Schönhof ( 1526 ). Der imposante Bau steht in der Brüderstraße 9 . Wie ein kleines Leuchtfeuer wirken seine roten Fenstereinfassungen, Torbögen und Gesimse auf dem Grau, egal von woher ich mich auf ihn zubewege. Sein Erbauer, Wendel Roßkopf, setzte sein Monogramm und sein Steinmetzzeichen auch an das Portal des Hauses Brüderstraße 11.
Einen weiteren farblichen Blickfang, aber mit milderen Tönen, bildet die Ratsapotheke (1550-1552) Ecke Untermarkt/ Peterstraße. Erwähnenswert sind der imposante Torbogen und die Fassadenmalerei. Im Erdgeschoss - und bei wärmeren Temperaturen vor dem Portal- bietet das Ratscafé seinen Gästen Geschichte und Gaumenfreude.
Mit seinen weißen quaderförmigen Fugen auf dem grauen Putz und den im helleren Grau gehaltenen Staffelgiebel habe ich das Haus in der Peterstraße 7 ( 1544 ) zu meinem persönlichen Favorit erkoren. Seine Geschosslagen unterscheiden sich leicht voneinander und scheinen mir wellenförmig entgegenzufließen.
In der Neißstraße 29 zeigt das biblische Haus aus den Jahren 1570-1572 auf seiner Fassade Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Und noch mehr Botschaften: Im Nachbarhaus Neißstraße 30 ( 1727-1729 ) verkörpern zwei engelähnliche Figuren die Tugenden „Gerechtigkeit“ und „Klugheit“. Es ist das bedeutendste Barockhaus der Stadt Görltz, so liest man in den Reisebüchern.
Mit einem kurzen Abstecher zur Straße „An der Frauenkirche“ möchte ich ein Gebäude erwähnen, das Weltruhm erlangte. Das ehemalige Görlitzer Warenhaus, ein Jugendstilbau der Jahre 1912/13, „ spielte“ das Hotel in dem Film „ Grand Budapest Hotel“, ausgezeichnet mit vier Oskars.
Von dem biblischen Haus in der Neißstraße sind es nur noch wenige Schritte zur Neiße. Die Altstadtbrücke führt mich zur polnischen Zwillingsstadt Zgorzelec. Schmal ist der Fluss hier, es ist nur ein kurzer Weg. Ohne Grenzkontrollen und unauffällig : Nähe, Verbundenheit, Freundschaft. Diesseits und jenseits der Neiße laden Cafés und Restaurants zum Verweilen vor und hinter ihren jahrhundertealten Gemäuern ein.
Geschichte erlebe ich hier. Und Zukunft.
Görlitz ist eine Reise wert. Unbedingt.
halt