Cassiopeia
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Jodhpur - Indien

Veröffentlicht: 01.11.2023

Nun war ich das erste Mal bewusst unhöflich zu Jemanden. Zu meiner Verteidigung haben mehrere Faktoren dazu beigetragen.

1. Die Nachtbusse werfen einem immer mitten in der Nacht ca. 5 km vor der eigentlichen Endstation raus, wo schon TukTuk-Fahrer, mit denen die Busfahrer einen Deal haben, auf einen warten und man eigentlich keine andere Möglichkeit hat, als den überteuerten Preis anzunehmen.

2. Da ich gerade Momo lese und mich die Situation der kleinen Waisen mehr als mitgenommen hat, als sie all ihre Freunde verliert und wünschte man würde ihr ihre Zeit wegnehmen. Auf der langen Busfahrt, mehr als 4.000 Km von meiner Familie und Freunden entfernt konnte ich mich sehr gut in ihre Situation hinein versetzten und wünschte mir, dass ich auch eine Schildkröte dabei hätte. Moment mal, mein Rucksack ist ja mein Panzer und mein Heim, welches ich immer mit mir trage und heißt ja sogar wie Momos Schildkröte, Cassiopeia. Aber der kann halt nicht in die Zukunft schauen ಠ⁠ಗ⁠ಠ

3. Und zu guter Letzt hörte ich beim Lesen melancholische Filmmusik von Hanz Zimmer, was dazur führte, dass ich die sonst schon starkeren Emotionen noch intensiver wahrnahm.

Als der Busfahrer mich also frühzeitig rausschmiss fragte er mich ob alles gut sei und ich ging einfach an ihm vorbei ohne ihn auch nur anzuschauen. Ein richtiger Frechdachs bin ich hier geworden. Ok, so richtig schlimm war es nicht, doch nahm ich ihm seinen Respekt, dadurch dass ich ihn nicht achtete! Dann kam jedoch ein, in diesem Moment mir als Engel und Erlöser erscheinender Inder namens Jasper mit seinem Motorrad an mir vorbei gefahren und nahm mich bis zum Hostel mit.

Jodhpur ist vor allem für seine Meherangarh Festung bekannt und das zu Recht. Dieses Monstrum aus Sandstein überragt die 500 Jahre alte Stadt und wirft einen riesigen Schatten auf die traditionell indigoblau gefärbten Häuser. Mit den mehrfachen Stadtmauern, Stadttoren, Marktplätzen und einem riesigen Stufenbrunnen fühlt man sich wie im 4. Jarhundert in der Blütezeit des persischen Reichs. Die Festung erfüllte jegliche Kindheitsfantasien, in denen ich mir mit meinem besten Freund Malte abenteuerliche Geschichten über Assassinen in Arabien ausdachte, die alle möglichen Gefahren und Feinde auf spektakuläre Weise besiegten. Als ich dann noch mit sechs verschiedenen Zip-Lines durch die Festung, über seine Teiche und Seen und über die Stadtmauer zischte, fühlte ich dann auch in meinen Arterien das persische Assasinenblut fließen.

Irgendwann kam ich dann aus meiner Fantasie wieder in der Realität an und bestaunte die unglaublich detailreichen Verzierungen der Innenhöfe und fragte mich eingeschüchtert wie es möglich war das Menschen so etwas damals, aber auch überhaupt, erbauen konnten. Ich wünschte und wünsche mir immernoch, dass die heutige Architektur es schaffen würde die Funktionalität und Ästhetik wieder häufiger zusammen zuführen. Der Fokus auf die Funktionalität und Kostensparung erleichtert es nicht gerade sein Haus als sein Zuhause anzusehen. So setzt man lieber auf die simpelsten geometrischen Formen und platziert einen rechten Winkel nach dem anderen, ohne jemals auch nur in Erwägung zu ziehen, einen Bogen zu spannen, pflanzenartige Verschnörkelungen ein zu gravieren, Erker herausstehen zu lassen, Wendeltreppen spiralförmig in die Höhe sprießen zu lassen oder den unebenen Pflasterstein dem monotonen Asphalt vorzuziehen. Diese Art des Häuserbauens zwingt uns alle als Individuum unsere innenarchitektonischen Fähigkeiten die wir besitzen zu nutzen um die kalte Außenarchitektur zu kompensieren. Hätten wir bloß wieder Sklaven wie damals, die sich an lediglich einem Gebäude für eine kleine Familie, die mit einer Schreckensherrschaft regiert, zu tode arbeiteten und jegliches Geld, welches man auch für das Bildungssystem oder Gesundheitswesen der Bürger hätte nutzen können, in die Errichtung eines privaten Schwimmteichs floss. Früher war halt alles besser.

Danach ging ich durch einen canyonartigen Steingarten in der prallen Mittagshitze, versuchte mich nicht von den riesigen Kakteen aufspießen zu lassen, bewunderte noch ein Palast, der komplett aus Marmor erbaut wurde und fiel unfassbar platt auf die Couch im Hostel. Nach einer kleinen Erholung ging ich dann noch mit ca. 10 anderen Backpackern auf eine Stadttour die mit einem Chai beim Sonnenuntergang auf einem Hausdach endete.

Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um 06:30 Uhr, da ich mich mit einem Briten verabredete eine Runde laufen zu gehen und der hatte ein Tempo! Ich bin noch nie mit jemanden eine Runde joggen gegangen, der schneller war als ich, aber dieser Nordeuropäer war wie ein Blitz unterwegs. Ich konnte gerade so mit ihm mithalten und ringte so sehr nach Luft als wir ankamen, als ob es mein erster Atemzug nach der Geburt sei. Nach der Auspowerung folgte ein kleiner Powernap und danach gingen wir zu einem riesigen Stufenbrunnen und sprangen von 8 Meter Höhe in den 60 Meter tiefen Wasserspeicher, während uns Inder filmten und auf jeglichen Social media plattformen hochluden. Danach gingen wir wieder müde zum Hostel zurück und alle teilten sich auf.

Es war der erste Tag in den letzten zwei Monaten an dem ich mich langweilte. Wo ich das jetzt hier so schreibe denke ich mir eigentlich, dass das eine verdammt gute Statistik ist und doch fühlte sich das nichts tuen in diesem Moment so bedrückend an, als ob sich noch nie ein Mensch mehr gelangweilt hätte. Da ich Momo am Abend zuvor zuende lies, machte ich eine kurze Pause von Büchern, meine Müdigkeit vom vorherigen Tag hinderte mich am philosophieren oder lernen, die Mittagshitze am rausgehen und meine alleinige Anwesenheit im Hostel am sozialen interagieren. So fing ich dann doch an "Das Café am Rande der Welt" zu lesen und nach doch einer fixen Runde Schach mit dem Briten trampte ich noch zum letzten Ort den ich mir anschauen wollte. Eine sehr schöne Tempelanlage in der ich weiter las und den Sonnenuntergang genoss. Es war ein sehr ruhiger Tag, der mir vorallem Geduld lehrte und in einem Nachtzug endete, der mich hoffentlich in die Tharwüste Indiens bringen wird.

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