Salam ya Amman
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Im Visier.

Veröffentlicht: 07.02.2020

Mittwoch, 5. Februar

Ich habe wirklich überlegt, ob ich diesen Beitrag veröffentlichen soll. Und ich weiß immer noch nicht, ob es eine kluge Idee ist, überhaupt noch von Palästina aus zu schreiben. Ich mache es trotzdem, weil es mich einfach unglaublich wütend macht, was hier vor sich geht.

Wir nehmen heute Morgen unser Frühstück schon im Hostel zu uns, damit wir nicht wieder den Vormittag mit leeren Mägen in der Stadt verbringen müssen, und pilgern los. Das Wetter ist immer noch wundervoll sonnig, sodass wir gut gelaunt in der Altstadt ankommen, wo wir heute noch einmal über den Markt schlendern wollen. Wir beide lieben einfach die atmosphärischen Marktgassen, in denen von Klamotten, über Lebensmittel, Obst und Haushaltswaren wirklich alles angeboten wird. Nur das mit dem Bezahlen müssen wir hier in Palästina noch ein bisschen üben. Mit der für uns noch immer nicht ganz vertrauten Währung sind wir noch absolut nicht verhandlungssicher, und zahlen definitiv deutlich mehr, als wir eigentlich sollten.

Wir sind trotzdem sehr zufrieden mit frischem Brot und Nüssen und halten weiter vorne bei einem Saftstand, wo wir uns noch einen Kaffee besorgen. Wir bekommen vom sehr netten Verkäufer noch ein süßes Gratis-Gebäck dazu, was wir dankbar verspeisen, während er uns ein Bild von seinem Bruder zeigt. Der studiere in London, sagt er uns, und sei dort „Number one“. Er hätte sogar Kontakt mit den Königs. Auf dem Bild, das er uns zeigt, sieht man einen jungen Mann neben Wax-Figuren der Royals stehen. Wir merken erst, dass wir ihn desillusionieren, als wir ihm per Google Übersetzer mitteilen, dass das nicht die echte Königsfamilie ist. Er ist sichtlich perplex. Er habe das Foto nur auf Facebook gesehen, sagt er, und sei schlicht davon ausgegangen, dass sein Bruder tatsächlich zu Besuch im Königshaus war. Ein wenig schlechtes Gewissen haben wir schon, dass gerade wir ihm jetzt die Wahrheit mitteilen. Aber er wird damit schon klarkommen.

Wir führen unseren Weg dann weiter, heute wieder zur Drehtür vor der Al-Ibrahimi Moschee. Von dem Platz davor wollen wir einen Bus zu der jüdischen Kirjat Arba Siedlung nehmen, die größte Siedlung in Hebron. Wir haben vorher überlegt, ob wir es aus ethischen und auch sicherheitstechnischen Gründen in eine Siedlung wagen sollen, und uns dann dafür entschieden. Wenn wir das komplette Bild Hebrons bekommen wollen, gehören auch die Siedlungen dazu. Und es interessiert uns, wie die Menschen dort tatsächlich leben. Außerdem haben uns sowohl Thalal, als auch Dan (der holländische Volunteer im Hostel) gesagt, dass das kein Problem sei. Dan war selbst schon in der Siedlung, und hat dort mit ein paar Siedler*innen gesprochen. Das sei zwar nicht einfach gewesen, aber sehr aufschlussreich, sagt er. 

Wir machen uns also auf den Weg zu der Bushaltestelle, den Thalal uns beschrieben hat. An der Al-Ibrahimi Moschee und den Soldat*innen vorbei, wieder das gleiche Spiel wie gestern. „Where are you from? Germany? Are you Christian? Okay, enjoy!” Ich kann und will mich daran einfach nicht gewöhnen.

Wir warten also in der Sonne auf den Bus und befinden uns 15 Minuten später dann auf dem Weg zur Siedlung. Nach nur etwa 10 Minuten Fahrt passiert unser Bus einen Checkpoint (natürlich ist die komplette Siedlung mit einer Mauer und Stacheldraht umzäunt), dann sind wir auch schon drinnen. Der Bus fährt über breite Straßen, an deren Rändern weiße, neue Bauten stehen. Wir sind uns nicht ganz sicher, wo genau wir hinwollen, und steigen ein paar Haltestellen später schließlich irgendwo aus. Los geht es also zu Fuß durch die Siedlung.

Obwohl heute strahlend schönes Wetter ist, fällt uns auf, dass fast kein Mensch auf den Straßen ist. Hin und wieder fahren ein paar Autos an uns vorbei, ansonsten scheinen sich Leute hier nur in der Öffentlichkeit aufzuhalten, wenn sie irgendwo hinmüssen. Alles hier wirkt clean (sowohl im übertragenen, als auch im wortwörtlichen Sinne – es ist wirklich kein Vergleich zu dem vielen Müll, der in Hebrons Stadtzentrum überall zu finden ist), anonym und irgendwie künstlich. Der Grünstreifen in der Mitte der Straße ist mit akkurat stehenden Palmen bepflanzt, die Häuser in den Wohnblocks sind wie aus einem Ei gepellt. Wir versuchen, mithilfe von Google Maps ein Stadtzentrum auszumachen, um irgendwo Leben zu finden, und stoßen auf ein Kulturzentrum, nur wenige Meter entfernt von uns. Wir treten ein und finden uns in einer leeren Empfangshalle wieder. In einem Raum weiter hinten sehen wir durch eine Glaswand, wie ein paar jüdische Frauen an Schreibtischen sitzen und offensichtlich irgendeinen Kurs belegen.

Wir schauen uns um. An den Wänden hängen ein paar bunte Bilder von Kindern, außerdem eine Art schwarzes Brett, auf dem einige Flyer und Dokumente angepinnt sind. Alles jedoch ausschließlich auf Hebräisch, weshalb wir kein Wort davon verstehen. Wir drehen uns noch einmal im Kreis. Falls uns jemand gesehen haben sollte, interessiert sich offensichtlich keiner für uns. Leben finden? Gescheitert.

Wir treten wieder aus dem Gebäude aus und finden links von uns eine Art Park, den wir jetzt ansteuern. Wir sehen schon von weitem eine Gruppe junger Soldaten, die um ein Militärfahrzeug herumstehen und -sitzen und einen Tratsch halten. Auch sie interessiert es nicht, dass wir an ihnen vorbeilaufen. Wir drehen eine Runde durch den kleinen Park, in deren Mitte sich ein bunter Spielplatz befindet. Dort sitzt genau eine jüdische Mutter mit ihrem kleinen Kind. Ansonsten sind wir die einzigen Besucher hier. Die ganze Anlage wirkt komplett ungenutzt. Leben finden? Immer noch nicht.

Wir machen uns auf den Rückweg und beschließen, zumindest noch einen Kaffee zu trinken, bevor wir die Siedlung wieder verlassen. Das ist außerdem eine gute Idee, um doch vielleicht noch mit Menschen in Kontakt zu kommen, wie ich Lea zustimme. Wir sprechen also eine junge Frau an, die gerade an uns vorbeigehen will, und fragen sie, ob sie ein nettes Café kennt. Sie ist zum einen sehr schüchtern, zum anderen nicht wirklich der englischen Sprache mächtig, und verweist uns auf eine Art Einkaufszentrum, in dessen Innenhof wir eben schon unsere Köpfe gesteckt haben. Das Café dort haben wir gesehen, aber das sah weder gemütlich aus, noch war es mit Menschen gefüllt. Wir bedanken uns bei ihr, und wollen unser Glück zumindest noch ein einziges Mal versuchen.

Ein älterer Mann mit langem Bart kommt mit einem Kinderwagen in unsere Richtung und bleibt an einem schwarzen Brett stehen, an dem er sich etwas durchliest. Wir stellen uns also neben ihn und sprechen ihn an. „Hello.“ Keine Reaktion. „Hello?“ Immer noch keine Reaktion. Lea und ich schauen uns an. „One question?“ Der Mann liest regungslos weiter. „Eh, one question?“

„Huh?“ Endlich dreht er sich zu uns um. Ich schüttele innerlich den Kopf. Es ist auf jeden Fall zu hundert Prozent ausgeschlossen, dass er uns jetzt erst bemerkt hat. Wir fragen ihn nun trotzdem noch nach einem Café, woraufhin auch er uns auf das Einkaufszentrum verweist. Ob es noch etwas netteres gebe, fragen wir weiter, vielleicht irgendwo anders hier? „No, no, no! There’s nothing else. But this is really nice”. Wenn das hier das schönste Café in der Siedlung ist, möchte ich die anderen Cafés gar nicht erst sehen. Wir haben jedoch eher das Gefühl, dass er verhindern möchte, dass wir noch weiter durch die Siedlung spazieren.

Wir bedanken uns also auch bei ihm und laufen dann zu dem Café im Einkaufszentrum. Offensichtlich haben wir hier gerade keine andere Alternative. Bevor wir ins Café gehen, machen wir noch einen Abstecher in den Supermarkt daneben. Wir bekommen innen ein paar seltsame, prüfende Blicke, und werden dann mal wieder wie Luft behandelt. Der Supermarkt selbst ist im Gegensatz zu den meisten arabischen Supermärkten, die wir gesehen haben, perfekt geordnet und aufgeräumt und bietet auch Alkohol an, was ein wirklich ungewohnter Anblick ist. Wir besorgen uns ein paar Nüsse und Gebäck und stellen uns an einer Kasse an, wo die Kassiererin am Ende uns nicht begrüßt, sondern einfach den Preis auf Hebräisch nennt. Mehr Kommunikation gibt es hier nicht.

Also gut. Letzte Station jetzt das Café. Es sieht immer noch nicht gemütlicher aus als eben. An einem der Handvoll Plastiktische davor sitzen ein paar junge Männer, die Kaffee rauchen und Shisha trinken. Wir bestellen innen einen Kaffee bei einer semi-freundlichen Bedienung, die uns hinterherruft, dass hier Selbstbedienung herrscht, als wir uns schon einmal an den Tisch setzen wollen. Wir warten also, bis sie uns den Kaffee auf den Tresen stellt, für den wir dann den doppelten Preis bezahlen wie für den Kaffee heute Morgen in der Altstadt.

Draußen am Tisch setzen wir uns dann zu den leeren Kaffeetassen unserer Vorgänger, packen das Gebäck aus und beobachten unsere Umgebung. Es gibt ein paar kleine Geschäfte hier im runden Einkaufszentrum und ein Fitnesscenter am Eingang – der einzige Ort an dem man hin und wieder ein paar Leute sieht. Ansonsten auch hier, Ödnis. Ein kleines Kind läuft an uns vorbei, das uns mit nur einem ganz kurzen Blick würdigt, und uns dann nicht mehr beachtet. Wenn man bedenkt, welche Aufmerksamkeit wir hier normalerweise von Kindern bekommen, wirklich ungewöhnlich. Nicht mal die Kinder beachten uns, bemerkt Lea. Man kann wohl sagen, dass der Versuch, ein wenig mehr über die Leute hier herauszufinden, gescheitert ist.

Wir haben das dringende Bedürfnis, wieder unten in der Stadt zu sein, aber lassen uns einen letzten Kontaktversuch am Tisch neben uns nicht nehmen. Wir fragen die jungen Männer dort, ob sie wissen, von wo aus hier die Busse in die Stadt fahren. Es dauert ein wenig, bis uns einer von ihnen antwortet, während die anderen grinsen. „To where? Jerusalem?“ Ich frage mich langsam, ob die Leute hier das arabisch geprägte Stadtzentrum Hebrons überhaupt als Stadt anerkennen. Wir sagen, dass wir nach Hebron wollen, woraufhin er uns die Buslinie nennt. Ob wir wüssten, wann die Busse fahren. Wir verneinen. Man könnte erwarten, dass er uns nun die Zeiten nennt, aber die wüsste er auch nicht. Wir fragen also noch nach dem Ort der Haltestelle, woraufhin er in eine nicht ganz eindeutige Richtung zeigt. Er erklärt sich schließlich bereit, ein paar Meter mit uns zu über den Innenhof des Einkaufszentrums zu laufen, bis wir die Haltestelle sehen können. Wir merken allerdings, dass er auch nicht im Geringsten daran interessiert ist, mit uns zu reden. Ja. Die Kontaktversuche hier sind tatsächlich gescheitert.

Wir sitzen also an der Mauer der Bushaltestelle und essen ein paar Nüsse, bereit, diesen seltsamen Ort hier wieder zu verlassen. Ein größeres Auto fährt an der anderen Straßenseite an uns vorbei und wir bemerken, dass der Fahrer nicht aufhört, uns anzustarren. Nach unseren Erfahrungen aus der letzten Stunde, hier wirklich ungewöhnlich. Er dreht nun vorne am Kreisel und kommt auf unserer Seite der Straße in unsere Richtung gefahren, bis er dann direkt vor uns stehen bleibt. Lea und ich schauen uns an. Wir haben keine Ahnung, was uns jetzt erwartet.

Der Fahrer steigt aus und redet mit einer Frau, die an der Bushaltestelle steht. An ihr sind wir vorher schon einmal vorbeigelaufen. Sie schauen in unsere Richtung und es ist ganz offensichtlich, dass sie über uns reden. Er kommt nun also auf uns zu, in einer Hand sein Handy, in der anderen ein Walkie-Talkie. Wo wir herkommen, möchte er wissen. Es ist das erste Mal, dass hier jemanden die Antwort „Germany“ nicht zufriedenstellt. Wo wir jetzt gerade herkommen, fragt er nach. Aus der Stadt, antworten wir ihm wahrheitsgemäß. Was wir hier machen, die nächste Frage, die feindlich klingt. Wir sagen ihm, dass wir uns nur die Gegend hier anschauen wollen, woraufhin er nun mit seinem Handy winkt. Er hätte hier ein paar Fotos von uns von gestern, auf denen zu sehen sei, dass wir in „problems with the arabs“ involviert gewesen seien. Wir merken, wie sich das von Anfang an unangenehme Gespräch in eine kritische Richtung bewegt. Wir bestreiten, was er sagt, was ihn nicht zufriedenstellt. Was wir auf der palästinensischen Seite gemacht hätten, will er weiter wissen. Wir wiederholen immer das Gleiche, wie eine Kassette – wir wollen uns nur die Gegend hier anschauen.

Es ist ihm anzusehen, dass er uns kein Wort glaubt. Er geht wieder zu seinem Auto und funkt ein paar Leute mit seinem Walkie-Talkie an. Lea und ich haben ein richtig ungutes Gefühl. Wir wissen nicht, wer der Mann ist – israelischer Geheimdienst, Sicherheitsbeamter, Militär, Polizei. Es könnte alles sein. Und alles davon kann richtig unangenehm werden. Wir fragen uns, was genau uns nochmal in diese Siedlung hier verschlagen hat. Aber es hilft jetzt alles nichts. Wir können gerade nichts mehr daran ändern, hier zu sein, auch wenn wir es uns noch so sehr wünschen würden.

Der Mann hat seine Walkie-Talkie-Gespräche beendet und kommt nun erneut auf uns zu. Ob wir uns sicher seien, dass wir in nichts involviert waren. Ich bin so langsam wirklich genervt und frage ihn, ob er uns die Bilder von uns zeigen kann, wenn er denn welche von uns hat. Direkt vor uns stehend zückt er nun sein Handy und kündigt an, jetzt Bilder von uns zu machen. Während Lea ihr Gesicht hinter ihren Händen verbirgt, bin ich zu perplex und zu wütend, um es ihr gleichzutun. Warum, fragen wir ihn. Warum nicht, entgegnet er. Ob wir irgendetwas zu verbergen hätten. Ich fange innerlich an zu kochen, und sage ihm, dass niemand sonst einfach so ungefragt Bilder von uns macht. Er wiederholt immer nur, ob wir etwas zu verbergen hätten, steigt dann in sein Auto und fährt los.

Wir wissen nicht, was jetzt passiert. Wir wissen nur, dass wir hier rauswollen. Es kann sein, dass wir es uns einbilden, aber es fahren jetzt in immer kürzer werdenden Abständen Militärfahrzeuge an uns vorbei. Außerdem immer wieder der Mann, der jetzt ein Bild von mir auf seinem Handy hat. Wir fragen einen Busfahrer, der nun an unserer Haltestelle hält, nach der Buslinie, die wieder nach Hebron fährt, aber er kann oder will uns keine brauchbare Auskunft geben. Wir stehen noch eine Weile an der Bushaltestelle, aber können die angespannte Situation und die Militärpräsenz irgendwann nicht mehr aushalten. Wir beschließen, zu Fuß zurück zur Stadt zu laufen.

Der Weg aus der Siedlung heraus führt uns durch ein offensichtlich palästinensisches Wohngebiet. Wir werden auf einmal wieder beachtet. Zwei junge Frauen, die an uns vorbeigehen, begrüßen uns kichernd. Kinder kommen auf uns zugerannt und geben uns die Hand. Auch wenn Lea mich daran erinnert, dass es vor allen Kameras, die hier in Hebron an jeder Ecke angebracht sind, gerade besser wäre, nicht zu viel Kontakt mit Menschen auf palästinensischem Gebiet zu haben – es fühlt sich gut an, wieder hier in der Umgebung zu sein.

Wir kommen hinter der Al-Ibrahimi Moschee heraus und müssen dort wieder Mal einen Checkpoint passieren. Ob wir Christinnen seien, will der israelische Soldat wissen und beantwortet sich die Frage selbst mit Blick auf das kleine goldene Kreuz, das um meinen Hals hängt. Ohne eine Antwort von uns abzuwarten öffnet er das Tor. Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu wollen.

Wir nehmen den kürzesten Weg durch die Altstadt hoch zu unserem Hostel, als uns ein junger Mann auffällt, der vor uns läuft und auf Englisch telefoniert. Das Wort „activist“ fällt. Wir werden hellhörig. „They are here now“. Lea und ich schauen uns an. Wir biegen die nächste Straße ab und merken nach ein paar Metern, dass der Mann nun hinter uns geht. Wir verlangsamen unseren Schritt, lassen ihn an uns vorbeigehen und befinden uns jetzt wieder hinter ihm. Er nimmt den Weg Richtung Hostel. Wir malen uns schon alles Mögliche aus, als er ein paar Meter vor unserem Hostel in ein Taxi steigt und davon fährt. Vielleicht ist alles nur ein blöder Zufall, aber unsere Köpfe sind gerade nicht mehr dazu in der Lage, Hirngespinste von Realität zu unterscheiden. Wir sind einfach nur froh, als wir in der Hotelrezeption ankommen.

Wo wir dann alleine sitzen. Niemand scheint hier zu sein. Während wir schon einmal alle Gesprächsverläufe auf unseren Handys löschen, in denen es um Israel und Palästina ging, kontaktiert Lea gleichzeitig einen Freund, dessen Mutter aus Israel kommt, um von ihm eine Einschätzung unserer Lage zu hören. Da fällt ein Schuss. Wir schauen uns an. Gestern Abend erst haben wir ein Feuerwerk gehört, aber das Geräusch jetzt klang anders. Eine Weile herrscht absolute Stille. Dann fällt noch ein Schuss. Und noch einer. Und noch einer. Wir fragen uns, wo alle anderen aus unserem Hostel sind. Und ob uns irgendjemand aus diesem Albtraum aufwecken kann.

Lea geht auf Toilette und ich höre sie kurz darauf wieder die Treppe herunterkommen. Herein tritt dann allerdings nicht Lea, sondern eine der Rezeptionistinnen. Ich würde sie am liebsten umarmen, so froh bin ich, sie zu sehen. Umso mehr, weil sie strahlt, und es ihr offensichtlich blendend geht. Die zweite Rezeptionistin stößt zu uns, bei der ebenfalls alles in Ordnung zu sein scheint. Ob sie die Schüsse eben gehört haben, frage ich sie. Sie wissen zuerst nicht, was ich meine, winken dann allerdings hab. Das höre man hier regelmäßig, sagen sie. Es sei der Sound von Tränengas-Patronen, die Soldat*innen abfeuern, wenn Kinder sie mit Steinen bewerfen. Sie sind nicht im Geringsten beunruhigt. Mir fällt ein Stein vom Herzen.

Dan, der Volunteer (der übrigens International Law studiert hat) und Lea tauchen kurz darauf auf, und wir erzählen allen, was uns eben in der Siedlung passiert ist. Dan zieht seine Augenbrauen zusammen. Das sei ihm hier noch nie passiert, sagt er. Aber er ist sich sicher, dass uns nichts passieren kann – wir haben uns nicht zu Schulden kommen lassen. Dann gibt auch Leas Israel-Kontakt Entwarnung: Die Mutter des Freundes, den sie kontaktiert hat, kennt den Mann, der uns in der Siedlung bedrängt hat. Lea hat ein Bild von ihm gemacht. Er sei niemand Offizielles, sondern ein extrem radikaler Siedler, der davon besessen ist, „seine“ Siedlung zu beschützen, und allen Eindringlingen, die von außerhalb kommen, Angst einzujagen. Unsere Erleichterung ist schwer in Worte zu fassen. Es ist verrückt, wie schnell man sich Dinge im Kopf zusammenspinnt, aber wir haben uns schon auf der roten Liste des israelischen Geheimdienstes gesehen. Und was den radikalen Siedler angeht: die Menge an Dreistigkeit und Skrupellosigkeit, die er besitzt, ist wirklich ein eigenes Level.

Wir sind dennoch froh, heute weiterzuziehen, und machen uns nun auf den Weg nach Bethlehem. Wir setzen uns in einen lokalen Bus, nachdem der extrem nette Busfahrer unser Gepäck eingeladen hat, und genießen die Fahrt mit Menschen, unter denen wir uns wohlfühlen. In Bethlehem angekommen erreichen wir nach nur kurzem Fußmarsch unser Hostel, wo uns der Hostelbesitzer erst einmal einen Kaffee anbietet und wir bei Sonnenuntergang auf dem Balkon etwas zur Ruhe kommen können. Was für ein Tag.

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