heute-hier-morgen-dort
heute-hier-morgen-dort
vakantio.de/heute-hier-morgen-dort

Auf dem Jakobsweg von Fulda nach Frankfurt

Veröffentlicht: 23.05.2021

Endlich wieder ein Abenteuer

Sehnsucht kennen wir: die Sehnsucht nach der Familie in der Heimat, der normalerweise in regelmäßigen Abständen nachgegeben wird. Die Sehnsucht nach der Ferne, wo große und kleine Abenteuer auf uns warten. Die Sehnsucht nach Neuem, das irgendwo schlummert und entdeckt werden will. Aber die Sehnsucht danach, überhaupt mal wieder einen Plan zu schmieden, der eine reelle Chance hat umgesetzt zu werden, die war uns gänzlich unbekannt.

Obgleich wir im Hinblick auf die Corona-Pandemie sehr glimpflich davongekommen sind (keiner unserer Lieben ist schwer erkrankt oder - noch viel schlimmer sogar - verstorben. Wir haben alle nach wie vor ein Dach über dem Kopf und müssen nicht um unsere Zukunft bangen und mit ein paar Einschränkungen kommen wir auch finanziell gut über die Runden), haben die letzten Monate auch bei uns Spuren hinterlassen. Die allgegenwärtige Unsicherheit, ständig neue, zum Teil nicht nachvollziehbare Regeln und die soziale Isolierung haben zu Lethargie und Müdigkeit geführt. Ständiges Hoffen, tiefe Enttäuschungen und immer neue Versuche die Moral aufrecht zu erhalten, trotz aller Sorgen positiv und optimistisch zu bleiben, zermürben auf Dauer. Und jede noch so winzige Kleinigkeit wiegt plötzlich unverhältnismäßig schwer. Der Akku ist einfach leer.

Die ersten Impfungen und die damit verbundenen Erleichterungen im Alltag sind natürlich auch für uns der Strohhalm, an den wir uns klammern. Besuche bei und von der Familie heben die Laune und wir trauen uns den Kreis der Kontakte wieder etwas auszuweiten. Noemi und ihre zwei Mäuse Amelie und Sofia haben wir ewig nicht gesehen. Umso schöner festzustellen, wie gut die Chemie auch nach langer Pause bei Groß und Klein noch stimmt. Und während unendlich viele Worte ausgetauscht werden, Noemi von Ihrer neuen Leidenschaft für das Radfahren schwärmt und vom Vorhaben berichtet, einen Teil des Jakobswegs per Rad zu pilgern, höre ich mich plötzlich fragen, ob ich mich anschließen könne. Ups. Habe ich das gerade wirklich gesagt? Noch vor einem Jahr wäre mir nie im Traum eingefallen mich irgendwo selbst einzuladen. Aber zu spät. Die Worte sind raus. Die Sehnsucht war offenbar wirklich sehr groß.

Ein paar Tage später folgen Taten: plötzlich bin ich Teil einer Gruppe von sechs Verrückten (einer davon reist sogar aus Berlin an) mit unterschiedlichsten Hintergründen und Trainingszuständen, die von Fulda nach Frankfurt radeln wollen. Ach Du Schreck. So weit!!! Das sind 118 km!!! Auf einem unbequemen Fahrradsattel! Aus der Nummer komme ich wohl nicht wieder raus, aber vielleicht kann ich den Fux motivieren mitzukommen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Der ist natürlich sofort Feuer und Flamme. Hätte ich mir denken können. Der muss auch nicht befürchten irgendwann vor Erschöpfung vom Rad zu kippen. Ratzfatz ist eine Ida-Übergabe mit Oma Gunni und Opa Alois auf der Autobahn organisiert und wir haben ein freies Wochenende im Kalender. Und plötzlich spüren wir sie wieder: die Vorfreude! Endlich! Nach langer Zeit der Abstinenz steht wieder ein kleines Abenteuer vor der Tür.

Natur pur

Mit guter Planung kann gar nichts schief gehen…

Der Plan ist also wie folgt: Per Rad wollen wir ganz gemütlich der Via Regia folgend von Fulda nach Frankfurt radeln und uns jeweils beim Start in Fulda, in Steinau a.d. Straße, Bad Soden/Salmünster, Gründau, Langenselbold und am Ziel in Frankfurt einen Stempel im Pilgerausweis holen. 

Ob man das derzeit darf? Öhm, keine Ahnung. Aber mal ehrlich, eigentlich waren doch nur die Münchener so verrückt den Leuten zeitweilig das Radfahren an der frischen Luft zu verbieten. Wegen des Schnaufens. Bedarf wirklich keines weiteren Kommentars.

Tourprofil angelehnt an den Jakobsweg von Fulda nach Frankfurt

Rennradtour Jakobsweg Fulda - Frankfurt

Laut detailliert erstelltem Tourenprofil sind nur die ersten 35 km durch die Fuldaer Berge anspruchsvoll. Irgendwo erwartet uns mal eine 12% Steigung („Brennen muss es!“). Aber nur auf vier Metern. Pillepalle. Danach geht es wirklich nur noch bergab. Laut Lars könne man das selbst mit einem Bierbike nach Hause fahren. Wir hegen unsere Zweifel, aber da er die meiste Erfahrung auf längeren Distanzen hat, vertrauen wir mal einfach und widmen uns wieder den Vorbereitungen.

Höhenprofil der Strecke

Die Jakobsmuscheln sind bestellt, die Pilgerausweise von Noemi und Toni (noch so ein hochmotivierter Radler) besorgt und eine großartige Tourenkarte mit guter Erläuterung studiert. Lars und ich schauen noch mal das Video vom hr über das Pilgern in Hessen, um uns auf die Tour einzustimmen.

HR Dokumentation: Selbstversuch Pilgern - auf dem Jakobsweg von Fulda nach Frankfurt

Hessen ist wirklich schön, und wir freuen uns darauf unserer Wahlheimat zu erkunden, und auf neue Erfahrungen beim Pilgern. Es geht durch idyllische Dörfer, entlang der Kinzig und durch nur dünn besiedelte Landschaften. Herrlich. Natur pur. Im Video heißt es, „der Weg gäbe einem so viele Impulse, […] dass man manchmal auch einfach schweigen müsse“. Mindestens für Noemi wird das ganz sicher eine neue Erfahrung.

Auf dem richtigen Weg. Immer der Muschel hinterher

Jetzt nur noch die Bahnfahrt klar machen und dann ist alles in trockenen Tüchern. Sollte ja nicht so schwer sein. Falsch gedacht: Im ICE dürfen maximal zwei Räder mitfahren. Aha. Na gut, kann man aufgrund der Wagenaufteilung irgendwie noch verstehen. Macht aber nichts, will wollten sowieso mit einer Regionalbahn fahren. Dazu könne die Bahn aber keine Auskunft geben. Man solle sich mit dem lokalen Anbieter in Verbindung setzen. Auch nicht tragisch. Die Freude kann schließlich nichts trüben. Beim RMV sagt man uns, man müsse die Räder anmelden. Aber man könne nicht versprechen, dass sie dann auch mitgenommen würden. Es sei schließlich das Pfingstwochenende. Da rechne man mit einem erhöhten Verkehrsaufkommen. Im schlimmsten Fall dürften wir einfach nicht mitfahren. Wo waren diese Mitarbeiter in den vergangenen Monaten? Sicher nicht in ihren eigenen Bahnen. Die sind nämlich leer! Selbst zu Stoßzeiten hat man ausreichend Platz in den Zügen, um Wiener Walzer zu tanzen, also wieso glauben sie, dass bei angekündigten 15 Grad, an einem Samstagmorgen um 08:16 Uhr, ihr Regio nach Bebra aus allen Nähten platzt? Ach, ihr kennt Bebra nicht? Wie kommt das? So wie der RMV das sieht, ist diese Stadt in Thüringen DAS Ziel für ein stürmisches Pfingstwochenende und sollte demnach auf jeder Reiseliste ganz oben stehen.

Wertvolle Ladung

Schlussendlich ist Noemis Papa Carlos so lieb und fährt uns die Räder mit seinem Transporter nach Fulda, während die aufgeregte Truppe eben radlos per Bahn nachkommt. Und auch nach vielen bangen Blicken auf den Wetterbericht, der sich stündlich ändert und auch je nach Quelle höchst unterschiedlich ausfällt, ist am Vortag der Tour der bisher angekündigte Regen tatsächlich verschwunden. Zwar ist auch durchgängig 54 km/h Wind aus Südwest angekündigt, aber kurz vorher kneifen ist keine Option.

Geholfen hat es leider nicht

„Aber nur wer betet!“

Früh am Morgen treffen wir uns am S-Bahnhof Niederrad und stellen zu unserer Bestürzung fest, dass die Bahnen aufgrund von Personen im Gleis ausfallen. Einen kurzen Moment sind wir radlos ganz ratlos, fangen uns aber schnell, planen um und steigen spontan in die nächste Tram. Uns kann rein gar nichts aufhalten! Es ist bedeckt, aber trocken, ab und zu sieht man sogar mal blauen Himmel. Sieht doch gut aus.

Noch lachen wir. Gemütlich und warm im Regio
Voller Vorfreude auf die Tour in der Bahn.

In Fulda angekommen nehmen wir unsere Räder entgegen, verwerfen Carlos Einwand, dass es doch etwas kalt und windig sei, und ignorieren ganz tapfer die 10 Grad Außentemperatur. Auf dem Gruppenfoto vorm Start bringen wir sogar ein Lächeln zustande.

Ein Foto vor dem Start
Abfahrt

Über ein paar Umwege finden wir den ersten Ort für den Stempel. Tatsächlich ist es rund um den Fuldaer Dom sehr hübsch (durch die Sucherei haben wir mehr Straßen erkundet als eigentlich angedacht, aber wir haben ja Zeit und lassen uns nicht beirren). Ein guter Auftakt. Der Plan, schnell stempeln und endlich los. ‚Ein Stempel bekommt man nur, wenn man auch betet!‘, lässt uns der gute Mann an der Michaeliskapelle wissen. Also gut, es schadet ja nichts, um Gesundheit und ein bisschen Sonnenschein zu bitten. Machen wir das halt. Es ist mucksmäuschenstill in der Kapelle und alle warten darauf, wer sich als erstes traut sich wieder zu erheben. Nicht, dass es auch eine Mindestzeit für so ein Stempelgebet gibt. Gott sei Dank gibt es an der Länge unserer Gebete zumindest vom irdischen Vertreter nichts auszusetzen und wir haben den ersten Nachweis im Pass.

Vor der Tour in Fulda.
Fuldaer Dom
Hoffnungsvoll nach de Stempelgebet

Der Weg ist das Ziel

Man sagt, wer pilgert, hat ein bestimmten Grund loszugehen. Früher war der Endpunkt einer Reise meist ein heiliger Ort und die Wallfahrt religiös motiviert. Heute zieht man häufig einfach los, um den Alltag hinter sich zu lassen, der Natur nahe zu sein, neue Erfahrungen zu sammeln, oder um eine Reise zu sich selbst anzutreten und das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Egal welcher Hintergrund, immer ist der Weg das Ziel.

Es schüttet wie aus Eimern und die Lufttemperatur sinkt auf mindestens -10°C ab. Mittlerweile ist das Lächeln im Gesicht eingefroren. Offenbar hat die Länge des Gebets dem himmlischen Vertreter überhaupt nicht gefallen. Oder der ist gerade im Pfingsturlaub. Bestimmt sogar. Und zwar per Bahn in Bebra.

Insgesamt ist der Radfernweg unglaublich gut ausgebaut. Ein glatter Belag, die Beschilderung ist super und nur wenige Teilstücke sind auf einer Straße im Verkehr zu fahren. Eigentlich beste Bedingungen. Zudem ist die Landschaft wirklich so schön, wie der hr-Bericht vermuten ließ: grüne Streuobstwiesen voller Butterblumen, schattige Wälder und romantische Fachwerkstädtchen.

Schade, dass so wenig Zeit war, die Idylle zu genießen

Im Nachhinein bin ich mir daher sicher, dass wir uns noch mehr haben zu Schulden kommen lassen, als ein zu kurzes Gebet. Denn zwei Stunden unangekündigter Dauerregen, höllische Sturmböen und technische Probleme haben uns keine Chance gelassen, die Landschaft auch zu genießen. Triec musste sich im höchsten Gang den ersten Berg hochquälen. Oben angekommen, haben ihre freundlichen Mitfahrer netterweise geholfen wieder runterzuschalten. Was zum Ergebnis hatte, dass sie bei der Abfahrt nicht wieder hochschalten konnte und im kleinsten Gang bis unten rollen musste. 

Trotz technischer Probleme gute Laune. Hut ab!

Toni durfte sich dafür mehrfach mit der 10cm-Pumpe warm pumpen, weil sein Hinterrad die Luft einfach nicht halten wollte. Hut ab, dass sich beide nicht haben entmutigen lassen. Als weiter. Der Weg ist das Ziel. Quälend langsam kämpfen wir uns im Gegenwind Meter für Meter voran.

Pumpen, pumpen, pumpen!

Am Brüder Grimm-Haus in Steinau wollen wir den ersten Stempel abholen. Leider ist das Museum geschlossen, aber es sind zwei Telefonnummern angegeben, bei denen aber niemand abnimmt. Wir machen ein Beweisfoto als Ersatz für den Stempel und fahren weiter. Bis 13:00 Uhr müssen wir in Bad Soden sein, um wenigstens dort einen Stempel zu ergattern.

Leider wegen Corona geschlossen. Kein Stempel am Brüder Grimm-Haus
Beweisfoto vor dem Brüder Grimm-Haus

Knapp vorbei. Erst gegen 14:00 Uhr schaffen wir es zu unserem zweiten Etappenziel. 04:15 h für nur knappe 45 km. Nicht gut. Triec verliert den Kampf gegen die miserable Witterung und steigt in die nächste Bahn, während der Rest der Mannschaft Gründau ansteuert, wo man bis 17:00 Uhr stempeln kann. Aber keine Chance. 

Romantische Wege entlang von Bachläufen und Fachwerkhäuschen
Bad Soden/Salmünster

Aufgrund des fiesen Gegenwinds schwinden die Kräfte mächtig schnell und wir brauchen viele Pausen. Pest gegen Cholera: Pausen sind nötig, um Kraft zu tanken (und irgendwann wollen die vielen Energieriegel schließlich auch gegessen werden). 

Die Route wurde immer wieder angepasst

Aber bei dem Wetter, wird man viel zu schnell kalt. Tatsächlich zittert Lars zwischenzeitlich wie Espenlaub und ich befürchte, wir sind die Nächsten, die das Handtuch werfen müssen. 

Die Hose kann man auswringen
Alles tropft

Zudem fällt es den Beinen mit jedem Stopp schwerer wieder ordentlich in die Pedale zu treten. Wobei Meli irgendwann feststellt, dass die Pausen der einzige Zeitpunkt zu sein scheinen, in denen uns Sonne gegönnt wird. Denn sobald wir wieder im Sattel sitzen, öffnen sich die Himmelspforten, und wir bekommen die nächste unfreiwillige Dusche.

Sonne während der Pause. eine Wohltat

Vielleicht ist das auch die Art des heiligen Vaters uns mitzuteilen, dass Pilgern zu Fuß und nicht auf zwei Rädern stattzufinden hat. Wer weiß. Die Wege des Herrn sich eben doch unergründlich.

Mal ein flacher Teilabschnitt

„Durch seine Leistung soll man vorwärtskommen, nicht durch seine Schieberei.“ Plautus

Offenbar musste Plautus nie eine körperliche Grenzerfahrung auf dem Fahrrad erleben. Denn wir können klar bezeugen: auch mit Schieben kommt man an. Unterwegs habe ich die unerschütterliche, Optimistin Noemi gefragt, ob sie noch lachen könne. Ja, Lachen ginge noch, aber Reden sei tatsächlich nicht mehr drin. Der Jakobsweg hat also selbst sie zum Schweigen gebracht.

Nicht mehr weit. Den Rest schaffen wir auch noch
Richtung Hanau
Bergab bei Sonne

Der Ehrgeiz hat uns mittlerweile aber alle gepackt. Wir haben uns von nichts aufhalten lassen, jetzt wollen wir auch ankommen. Angetrieben von Renés Faxen (ja, offenbar war es für die Herren noch nicht anstrengend genug, sie hatten noch Kraft für Quatsch auf dem Rad und ein paar Extrarunden), fahren wir irgendwann über eine Kuppe und sehen die Skyline vor uns liegen. Noch nie habe ich mich so gefreut, Frankfurt zu sehen. Was eine Motivation. Die letzten 20 Kilometer schaffen wir auch noch. Jetzt erst recht.

Wir haben es geschafft! Wir sind in Frankfurt
Home sweet Home

Nach elf Stunden und 124 km sind wir zu Hause. Schlackskaputt, mit nur einen einzigen Stempel, aber stolz wie Bolle.

Wir alle sollten uns vor uns selbst verbeugen: wir waren zwischenzeitlich jeder an unserem Limit. Sei es das körperliche, oder das mentale. Wir sind zum Teil deutlich darüber hinausgegangen, haben aber auch den Mut gezeigt, die eigene Grenze zu akzeptieren und die Gesundheit vornan zu stellen und sich dafür nicht zu schämen. Jeder von uns ist also nach dem gestrigen Tag um eine wertvolle Erfahrung reicher. Würde also meinen: Ziel erreicht.

Frankfurt belohnt uns mit einem schönen Sonnenuntergang


Antworten

Deutschland
Reiseberichte Deutschland