Veröffentlicht: 30.12.2018
Nach einem Monat, in dem wir fast jeden Tag gewandert sind, waren wir schließlich reif für eine längere Erholungspause. Im Dorf Thulo Barkhu hat Matthias vor zwölf Jahren ein paar Wochen verbracht und in der Dorfschule ausgeholfen. Da er immer noch mit den Söhnen der damaligen Gastfamilie in Kontakt steht, haben wir uns bei deren Eltern für eine Woche einquartiert und hatten das Glück auch die Festlichkeiten zum Feiertag Tihar mit der Familie verbringen zu können. Körperlich haben wir uns in der Zeit sicher erholt. Anstrengend war jedoch die Kommunikation mit den Eltern, die kein Englisch können und wir somit bis heute nicht sicher sind, wie viele Missverständnisse wir verursacht und in wie viele Fettnäpfchen wir getreten sind. Die Eindrücke aus unserem Eintauchen in das typisch nepalesische Dorfleben haben uns jedenfalls noch lange über diese Woche hinaus beschäftigt.
Kaum angekommen bot sich Matthias die Gelegenheit bei Dorfangelegenheiten mit anzupacken: Eine der Töchter unserer Gastfamilie baut gerade ein Haus und beim Betonieren der Zwischendecke hilft die gesamte männliche Dorfgemeinschaft. Dafür lässt sich die Familie nicht lumpen: Während die Männer schaffen, bereiten die Frauen Essen und Getränke für die Helfer vor. Nachdem sie uns zum Essen eingeladen haben, ließ es sich Matthias natürlich nicht nehmen und half ebenfalls beim Hausbau mit. Unser erster Pausetag hätte für Matthias sicherlich erholsamer sein können, aber so konnten wir schon direkt viele Bekanntschaften im Dorf schließen.
Eine unserer neuen Bekanntschaften sollte zwei Tage später eine entscheidende Rolle im Dorfleben spielen: Wir drei saßen gerade beim Mittagessen in einem etwas außerhalb des Dorfes gelegenen Restaurant als wir eine immer größer werdende Rauchwolke bemerkten. Zunächst schüttelten wir den Kopf darüber, dass da wohl jemand seinen Jahresmüll verbrennt und haben uns über unsere frisch gewaschene Wäsche gesorgt, die wir zum Trocknen aufgehängt hatten. Nach ein paar Minuten wurde uns jedoch klar: Das ist kein beabsichtigtes Feuer, da brennt ein Haus. Als wir ein paar Minuten später beim Brand ankamen, war von dem Haus schon nichts mehr zu sehen. Schnell wurde uns klar, was es bedeutet, wenn man sich nicht darauf verlassen kann, dass innerhalb weniger Minuten die Feuerwehr mit einem Löschzug vorfährt. Wieder war die Dorfgemeinschaft gefragt. In Ermangelung einer koordinierenden Instanz und nutzbarer Wasseranschlüsse war das Chaos jedoch groß: Viele standen nur rum, wenige halfen beim Löschen. Auch wir waren erst irritiert und ratlos, wie wir helfen können. Schließlich entdeckten wir, dass einige Menschen – angeführt von der Besitzerin des Nachbarhauses – Wassereimer schleppten. So konnte Matthias mit anpacken und als später die Polizei dazu kam und die Koordination übernahm, lief alles in geordneteren Bahnen ab.
Ein paar Stunden später konnten wir uns in Erinnerung rufen, welches Haus vorher dort stand. Unsere tragische Erkenntnis: Erst am Vortag haben wir den Hausbesitzer kennen gelernt. Vor seinem Haus stehend hat er uns seine Kinder vorgestellt und geklagt, dass er keine Arbeit hat und daher nur ein sehr kleines Häuschen besitzt. Unser Mitgefühl ließ uns direkt an Spendenaktionen zugunsten der Familie denken – bis wir am nächsten Tag die Hintergründe des Brands erfahren haben: Betrunken hat sich der Mann (nicht zum ersten Mal) mit seiner Frau gestritten bis sie mit den Kindern das Haus verlassen und zu ihren Eltern gegangen ist. Voller Zorn hat der Mann den Brand absichtlich gelegt. Die Scheidung hat die Frau noch am nächsten Tag veranlasst.
Da in Thulo Barkhu nur selten Touristen übernachten und diese üblicherweise nicht länger als eine Nacht bleiben waren wir recht schnell bekannt. Antonia – manchmal auch Antoni oder Antonio – bekam natürlich die meiste Aufmerksamkeit. Erstaunte Blicke zog sie meistens beim Essen auf sich: Für viele war es überraschend, dass sie das gleiche Essen isst, wie wir. Besonders gerne isst sie Nudeln, Gemüse, Obst und Kartoffeln. Wir waren dagegen genauso überrascht darüber, was die einheimischen Kinder essen: von morgens bis abends Süßigkeiten! Man sieht kein Kind, dass nicht einen zuckrigen Snack in der Hand hält. Ein Bild, dass sich uns besonders eingeprägt hat, war ein acht Monate altes Kind, das im Tuch auf den Rücken seiner Mutter gebunden war – und einen Lutscher im Mund stecken hatte. Die Süßigkeiten bringen nicht nur Zahnschmerzen, die bei der Enkelin unserer Gastfamilie jeden Abend zu herzzerreißenden Weinattacken geführt haben, sondern auch einen Berg an Müll mit sich. Die Verpackungen der Miniportionen werden an Ort und Stelle fallen gelassen. Dabei muss aber erwähnt werden: Nichts anderes bekommen die Kinder von den Erwachsenen vorgelebt.
Von den Nepalesen wurden wir während der gesamten Zeit meist sehr herzlich empfangen. Umso verwunderlicher fanden wir den Umgang innerhalb unserer Gastfamilie. So wurde der Sohn der Familie, als er nach mehreren Wochen Aufenthalt in Kathmandu zu den Feiertagen nach Hause kam, ungefähr so herzlich begrüßt wie wir ein Familienmitglied begrüßen, das mal schnell zwei Flaschen Sprudel aus dem Keller geholt hat. Unsere Geschenke, die wir schon vor unserer Ankunft an die Eltern der Familie gesendet haben, wurden von ihnen gänzlich unerwähnt gelassen. Erst auf unsere Nachfrage hin wurde uns gesagt, dass die Jacken leider zu groß waren – ob die übrigen Geschenke besser angekommen sind, haben wir nicht erfahren. Und ein letztes Beispiel: Als wir nach der Woche im Dorf auf den nächsten Trek gestartet sind, haben wir für eine der Schwestern der Familie, die in einer Lodge zwei Tagesetappen entfernt lebt, ein paar Dinge mitgenommen, die sie beim letzten Mal vergessen hat. Wir haben keinen Jubelschrei erwartet, dass sie uns dies aber mit keinem einzigen Wort dankt, hat uns doch etwas verwundert. In unseren Augen recht kühl und unfreundlich – oder einfach interkulturelle Missverständnisse? Wir wissen es nicht.
Ein Highlight unserer Woche Dorfleben waren schließlich die Aktivitäten anlässlich des Feiertags Tihar. Es ist das zweit wichtigste Fest in Nepal und dauert fünf Tage. An den ersten Tagen werden Lichterketten – gerne bunt und blinkend - aufgehängt und die Frauen bereiten gemeinsam Gebäck vor. Hier ergab sich nun endlich auch eine Gelegenheit für Swenja sich bei den Dorfaktivitäten einzubringen. Der letzte Tag ist für viele der wichtigste: Schwestern ehren ihre Brüder, indem sie ihnen sogenannte Tikas auf die Stirn malen und Blumenketten umhängen, während die Brüder ihren Schwestern Geschenke machen. Bei unserer Gastfamilie geschah dies während eines gemeinsamen Mittagessens mit der gesamten Großfamilie, zu dem wir auch eingeladen waren.