Cassiopeia
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Delhi - Indien

Veröffentlicht: 13.11.2023

Es kommt langsam zum Stillstand. Keiner bewegt sich und alle schauen gespannt auf die verschlossene Tür. In der Ferne hört man ein Baby schreien und jemand anderes führt ein hitziges Geschäftsgespräch, während ein Biep-Ton die restlichen Stimmen übertönt. Die Tür öffnet sich langsam und bevor sie auch nur halb offen ist drängeln sich die Menschen durch sie hindurch, als ob hinter ihnen der Tod persönlich auf sie wartet. Ich selber mache mich schlaftrunken ebenfalls Richtung Tür und Versuche nicht zerquetscht zu werden. Noch bevor ich die Schwelle übertrete sehe ich vor mir eine Rauchwolke aus dem Nichts herkommen, nein! Sie kommt vielmehr von überall und schlängelt sich entgegen der Menschenmasse elegant durch Tür ins innere. Im selben Augenblick spüre ich, dass die Luft von einem flüssigen Zustand zu einem zähen übergeht und mir die Sauerstoffzufuhr schwerer fällt, nicht viel, aber genug um es zu registrieren. Nachdem ich die Veränderung visuell und über mein vegetatives Nervensystem wahrnahm erfolgte nun die olfaktorische Erfahrung, durch einen Geruch, der an verbranntes Plastik und Gummi, Schmutz, Abgasen und hinfälligem Essen erinnerte.

Und so sah mein Willkommsgruß Delhi's aus. Die Luftverschmutzung betrug zu diesem Zeitpunkt die 25x Menge zu Köln und hatte das Äquivalent zu zwei Zigaretten pro Tag. Die Luftverschmutzung erreicht in Delhi Mitte bis Ende November ihren höchsten Wert, da erstens, das größte hinduistische Fest, Diwali, am 12. November stattfindet und somit unfassbar viele Menschen anreisen, der Verkehr noch chaotischer wird und Böller und Raketen gezündet werden (wobei letzteres jetzt verboten wurde) und zweitens, die Bauern in den Regionen ihre Felder anzünden um den Boden fruchtbarer zu machen und all der, in relation zur normalen Luft, warme Rauch Richtung des Hochplateaus auf dem Delhi liegt zieht. Ich wachte mit Halsschmerzen auf, welche sich über den Tag halbwegs legten und hustete als ob es nur noch eine Frage der Zeit ist bis mich meine Tuberkulose dahin rafft. Ich musste plötzlich wieder Anfang zu Niesen und mir die Nase zu putzen, wobei ich im Taschentuch eine undefinierbare schwarze Masse zurückließ, von der ich gar nicht wissen wollte, wie viel davon meine Nasenhaare nicht abfangen konnten.

Mein Müdigkeit und Abgeschlagenheit zog sich hier noch weiter und meine Lust zu sozialisieren war auf einem Tief. Da ich aber wusste, dass mir der Kontakt zu anderen gut tun würde, verabredete ich mich mit Aman, dem Inder, den ich in Goa kennenlernte und mir anbot Delhi zu zeigen. Wir hatten zwei lustige Tage mit viel Essen und ein paar Sehenswürdigkeiten, wobei ich mich nicht gut fühlte, da er sich so viel Mühe gab mir viel zu erzählen und zu zeigen, meine Aufmerksamkeitsspanne und mein Energielevel aber gegen Null lagen. Zwei Erlebnisse verstärkten dann noch meine Sehnsucht nach den abgelegenen Dörfern des indischen Himalayas, zu denen ich nach Delhi reisen werde. Zum einen zeigte mir eine Gruppe von kleinen Jungs in einem ehemaligen Slum den Mittelfinger, riefen mir "f*ck you" zu, hielten mich fest und fasten mir sogar ins Gesicht. Keine Zwei Stunden später beschmiss mich eine wohnungslose Mutter mit einem Becher Wasser, weil ich ihr kein Geld gab. Diese beiden Situationen führten bei mir zu einem knappen Tränenausbruch, nicht weil ich mich so übermäßig schlecht behandelt gefühlt habe, was zwar objektiv betrachtet der Fall war, sondern weil die Verzweiflung und die daraus resultierenden moralisch verwerflichen Handlung dieser Menschen durch so eine starke Armut provoziert wurden, die so unfassbar ungerecht wirkt. Trotzdem darf man so ein Verhalten natürlich in keiner Weise tolerieren, aber die Frage wo die Eigenverantwortung anfängt und was Folgen der Armut sind sollte man sich trotzdem stellen. Es ist genauso wie in dem Moment als ich einem Wohnungslosen statt Geld, etwas zu essen gab, obwohl er nach Geld fragte. Er nahm den gebratenen Reis und schmiss ihn vor meine Füße. Ich war total perplex und dachte mir, wie sich jemand in seiner Situation so etwas erlauben kann und dass es respektlos sei. Wenn man dann aber Mal darüber nachdenkt, dass Menschen, wie er, durch ihre Armut so durch den Alltag geschoben werden und keine Handlung wirklich frei entscheiden können, dann ist für ihn die einzige freie Entscheidung die er treffen kann, was er annimmt und was nicht. Und wenn er dann noch nach etwas fragt, aber etwas anderes bekommt und somit ihm auch die letze freie Entscheidung genommen wird, die er hat, dann ist es zwar nicht rational es zu verneinen, aber immens wichtig den letzten Tropfen Freiheit zu bewahren der einem übrig bleibt.

Hier in Indien fallen mir vor allem drei Aspekte auf, die zu der weit verbreiteten Armut und der ungleich behandelten Gesellschaft führen. Zum einen ist es der traditionell ausgelebte Hinduismus mit seinem Kastensystem und den arrangierten Ehen. Zwar ist Indien offiziell ein sekulärer Staat, der Hindunationalismus durch den amtierenden Präsidenten Modi, nimmt aber dennoch eine immer größere Rolle im Alltag und in der Politik ein. Außerdem hat bei vielen Menschen die Religion immernoch ein größeren Stellenwert, als soziale Gleichheit oder Fortschritt. Sie dominiert nicht nur den Alltag vieler, sondern beeinflusst auch fast alle anderen Entscheidungen, selbst wenn sie nichts mit Religion zu tun haben. Die zweite Ursache die mir auffällt ist das Bildungssystem. Es herrscht keine Pflicht, die Bildung ist teilweise sehr schwer zu erreichen, die Informationen sind veraltet, parteiisch oder nicht relevant und das Bewusstsein über Folgen von mangelnder Bildung fehlen.

Und zu guter Letzt fehlt ein bewusst ungleiches soziales Auffangsystem. Es hört sich vielleicht erstmal paradox an, wenn man Gleichberechtigung, durch ein System erlangen möchte, welches Menschen bewusst ungleich behandelt. Aber damit ist ein System gemeint, welches Menschen, die zeitweise aus dem Berufsleben und/oder Sozialleben entfallen, die Möglichkeit gibt sich wieder zu erholen und eine Rückkehr in den Berufsalltag ermöglicht. Menschen können leichter als man denkt, durch Scheidung, Tod von Verwandten, Unfällen, psychischen Problemen, usw., zeitweise Arbeitsunfähig sein. Wenn man diesen Menschen dann aber staatliches Geld zukommen lässt, wie z. B. das Bürgergeld in Deutschland, dann hilft man ihnen sich für diesen schwierigen Zeitraum über Wasser zu halten. Würde man all diese Menschen sich komplett alleine überlassen, so nach dem Motto: Des Glücks eigener Schmied, dann würde man so viele Menschen an die Armut verlieren, was nicht nur für das Individuum ein Schicksalsschlag ist, sondern auch für die gesamte Gesellschaft nach und nach zu einem großen Problem wird.

Vielleicht sind das ja drei Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Gesellschaft:

1. Ein fundamentales Gedankengut, welches nicht aus Religion entsteht, sondern auf Gleichheit und Freiheit beruht. (Um das zu erreichen ist vielleicht Voraussetzung Nummer 2 erst einmal nötig.)

2. Freier Zugang zu qualitativer Bildung für alle.

3. Ein bewusst ungleiches Sozialsystem, in Bezug auf ein Auffangsystem und Steuerzahlung.




Es gibt Tage an denen ich nicht sonderlich Lust, Zeit oder Konzentration habe meine Einträge zu verfassen und der Fakt, dass ich all diese Erfahrungsberichte auf meinem Handy eintippe macht es nicht einfacher. Ich muss mal schauen wie ich es in der Zukunft Hand haben werde. Vielleicht überspringe ich Mal Zeitintervalle oder gehe nicht ausführlich auf sie ein, da ich sie als nicht so prägend oder erzählenswert empfinde (So wie der größte Teil Delhis oder Jaipurs).


Hab einen wundervollem Tag, wer auch immer das hier liest (⁠◕⁠ᴗ⁠◕⁠✿⁠)

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