Veröffentlicht: 01.02.2017
Don Curry ist enttäuscht. Wenn er eine Reise plant, liest er sehr viel. Er will möglichst viel über die Orte wissen, die er zu besuchen plant. Aus den vielen Informationen wachsen so im Laufe der Zeit recht konkrete Vorstellungen. Fast hat Don Curry das Gefühl, die Orte schon einmal erlebt zu haben und jetzt noch einmal zurückzukehren. Doch Vorstellung und Wirklichkeit passen längst nicht immer zusammen. Der heutige Tag sollte das sehr deutlich zeigen.
Mit Prince hatte sich Don Curry für 8:00 Uhr verabredet. Er entschied sich spontan, das karge Frühstücksbuffet des Hotels Supreme zu verschmähen und lieber noch ein bisschen dösend Kraft für den Tag zu sammeln. Eine lange Autofahrt stand bevor.
Pünktlich wie immer war Prince mit seinem täglich frisch geputzten Toyota Innova bereit, das Gepäck wurde eingeladen, und die Fahrt in den äußersten Südosten Indiens konnte beginnen. 3,5 Stunden rechnete der erfahrene Fahrer für die Tour nach Rameswaram, und er sollte Recht behalten. Musikalisch hatte er wieder etwas besonderes ausgesucht: ein komplett gesungener Gottesdienst im syromalabarischen Ritus - fromme, rhythmische Gesänge mit leichten Bollywood-Anklängen in Melodieführung und Harmonik. Insgesamt aber gute, ungewöhnliche Untermalung für die lange Fahrt auf meist gut ausgebauten Straßen. Nur gelegentlich schimpfte Prince über die absurden Fahrmanöver einiger Verkehrsteilnehmer und betonte mehrfach, dass in seiner Heimat Kerala alle viel besser und ruhiger Auto fahren. Don Curry fand nach seinen Delhi-Erfahrungen, dass eigentlich überall auf der Welt die Menschen besser und ruhiger Auto fahren als in Indiens Hauptstadt. Tamil Nadu konnte ihn nicht mehr schrecken.
Gegen Ende der Fahrt verengte sich das Festland zu einer spitz zulaufenden Landzunge, bis auf beiden Seiten ein Meer sichtbar wurde: im Süden der Indische Ozean, im Norden der Golf von Bengalen. Eine 2,3 km lange Brücke führt dann über den Pamban-Sund zur Insel Rameswaram, die nur rund 20 km von Sri Lanka entfernt liegt.
In der gleichnamigen Hauptstadt der Insel lockt ein extrem bedeutender Hindutempel jederzeit Scharen von Pilgern an. Er ist eng mit der Geschichte des berühmten indischen Nationalepos Ramayana verbunden, hat darüber hinaus aber auch eine hohe spirituelle Bedeutung. Auf dem Tempelgelände und in seiner Umgebung sind über 20 Wasserbecken verteilt, die jeweils ein ganz besonderes Wasser mit einzigartigen Eigenschaften enthalten. Die meisten Pilger versuchen, nacheinander in festgelegter Reihenfolge alle Wasserbecken aufzusuchen, in voller Kleidung darin einzutauchen und anschließend in das Alkeheiligste des Tempels zu gehen. Für eilige Pilger steht allerdings direkt im Tempel ein besonders großes Becken bereit, das jeden Tag neu mit Wasser aus allen anderen Becken gefüllt wird; so bekommt man praktischerweise mit einem Bad das Gesamtpaket geliefert. Berühmt ist der Tempel von Rameswaram vor allem für seine gewaltigen Wandelgänge, der längste über 200 m lang. Vermutlich sollten diese langen Gänge den Pilgern helfen, ihre Kleidung wieder trocknen zu lassen, denn nass dürfen sie nicht ins Allerheiligste.
Zu diesem Tempel brachte Prince seinen vorfreudigen Fahrgast. Es war 11:30 Uhr. Da vor dem Tempel keine Parkmöglichkeit besteht, vereinbarten sie schnell, dass Don Curry maximal eine Stunde im Tempel bleiben wollte, und dass Prince in der Straße gegenüber warten wollte. Und schon fuhr er davon...
Don Curry begab sich zum Haupteingang und suchte zunächst ein Chappal, einen Aufbewahrungsort für Schuhe. Erst auf Nachfrage wies man ihm den Weg zu einer äußerst schmutzigen Treppe, an deren Ende in einem schmutzigen, dunklen Raum sich Regale für Schuhe befanden. Ob das Ganze wirklich bewacht wurde, blieb für Don Curry unergründlich.
Barfuß - und aufgrund der Treppe mit ziemlich schmutzigen Füßen - ging es nun abermals zum Haupteingang. Bei der obligatorischen Sicherheitskontrollen erfuhr er, dass er nicht nur die Kamera, sondern auch das Smartphone abzugeben habe. Jetzt wurde ihm klar, warum sämtliche kleinen Läden um den Tempel herum Pappschilder mit der Aufschrift "Cell Phone Locker" angebracht hatten. Er gab seine Geräte in einem Laden seines Vertrauens ab und bekam sogar eine Nummernmarke: hier ging man deutlich professioneller vor als bei der Schuhabgabe. Abermals erreichte Don Curry den Haupteingang, wurde ausgiebig abgetastet, und durfte endlich den Tempel betreten.
Die Wandelgänge erwiesen sich tatsächlich als eindrucksvoll. In vollendeter Symmetrie und farbenprächtiger Bemalung stellten sie exzellente Fotomotive dar - doch Don Curry war aller diesbezüglichen Möglichkeiten beraubt. Er fand auch bald das große Wasserbecken mit dem Gesamtcocktail und konnte beobachten, wie Hindupriester eifrige Pilger komplett mit dem Wasser übergossen. Doch mehr konnte Don Curry nicht in Augenschein nehmen. Sämtliche anderen Bereiche des Tempels waren für Nicht-Hindus gesperrt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sich ihm hier noch kein selbsterklärter Tempelführer aufgedrängt hatte. Es gab hier nichts zu führen... Enttäuscht verließ Don Curry nach 25 Minuten den Tempel, sammelte sein Eigentum wieder ein und machte sich auf den Weg, Prince in der Straße gegenüber zu finden. Doch kein weißes Auto weit und breit. Don Curry bemerkte schnell, dass auch in dieser Straße parken unmöglich war. Daher ging er davon aus, dass Prince sicherlich irgendwo außerhalb sein Auto abgestellt hatte und nach Ablauf der Stunde vorbeikommen würde. Zunächst spazierte er noch etwas an der äußeren Tempelmauer entlang, fotografierte einige der gelb eingefärbten Tempeltürme und spürte bald in sich zwei gegensätzliche körperliche Bedürfnisse. Etwas Essbares wäre jetzt gut, aber auch eine Möglichkeit, längst Gegessenes wieder loszuwerden. Na ja, Prince würde ja spätestens um 12:30 Uhr vorbeikommen...
Also wartete Don Curry, ging etwas auf und ab, zog sich dann aber auf eine schattige Treppe direkt neben dem Tempeleingang zurück. Vor hier würde er Prince in jedem Fall sehen, egal aus welcher Richtung er kommen würde. Es wurde 12:30, es wurde 12:40, es wurde 12:50. Langsam machte sich Don Curry Sorgen. Was konnte passiert sein? Ein Unfall? Neue gesundheitliche Probleme in Princes Familie? Es wurde 13:00 Uhr. Wieder ging Don Curry die gegenüberliegende Straße ab, schaute auch intensiv in die Nebenstraßen hinein: nichts.
Der Magen knurrte, der Darm grummelte, und Don Curry musste sich inzwischen auf die oberen, schmutzigen Stufen der Treppe setzen, weil die unteren bereits im hellen Sonnenschein lagen. Es wurde 13:30 Uhr. Drei weißgekleidete Brahmanen kamen vorbei und forderten Don Curry unmissverständlich auf, gefälligst seine Schuhe auszuziehen - die Treppe gehöre zum Tempel. Doch Ausziehen allein genügte nicht, Don Curry musste die Schuhe auf die Straße vor der Treppe abstellen. Am liebsten hätte er den Brahmanen mitgeteilt, wenn ihnen die Reinheit des Tempels so wichtig sei, könnten sie doch mal diese ziemlich schmutzige Treppe fegen. Doch er wusste, dass sein Ärger andere Ursachen hatte: Wo blieb Prince?
Es wurde 13:40 Uhr. Don Curry versuchte zu lesen, um sich von den immer deutlicheren Warnsignalen seines Körpers abzulenken. Doch immer mehr machte ihm der Verkehrslärm zu schaffen. Direkt vor dem Tempel bogen zahlreiche Busse, Laster, Pkw's und Tuktuks in die Zugangsstraße ab, und jedes einzelne Fahrzeug sah sich genötigt, das Abbiegen mit einem kraftvollen Hupen anzukündigen und zu begleiten. Begegneten sich zwei entgegenkommende Busse an dieser Stelle, wären die Trompeter von Jericho vermutlich vor Neid erblasst angesichts des hier veranstalteten Höllenspektakels. Es wurde 13:50 Uhr.
Don Curry fasste einen Entschluss. Sollte Prince bis 14:00 Uhr nicht zurückkehren, dann konnte er nicht mehr von einer normalen Verspätung ausgehen. Dann war er tatsächlich in dieser unangenehmen Stadt Rameswaram gestrandet. Er musste dringend einen Ort finden, an dem Magen und Darm ihr Recht bekämen und zugleich Kontakt zu Prince hergestellt werden konnte. Don Curry kam eine Idee. Es wurde 14:00 Uhr.
Bei seiner Suche in den Nebengassen der gegenüberliegenden Straße hatte Don Curry auch einen Sammelplatz von Tuktuks entdeckt. Eines der Fahrzeuge engagierte er jetzt, um sich in ein gutes Hotel bringen zu lassen. Er hatte mehrere am Stadtrand von Rameswaram gesehen, und wählte spontan das Hotel Daivik aus. Der Tuktukfahrer verlangte buchstäblich 8 Euro für die Fahrt, Don Curry gab ihm 200 Rupien (= 2,90 €) und war endlich in einer sauberen, klimatisierten und von sanfter Hintergrundmusik erfüllten Umgebung - fast wie der Himmel nach der durchgestandenen Hölle. Zuerst fragte Don Curry nach einem Lunch - es war inzwischen 14:20 Uhr - woraufhin die bildhübsche, engelgleiche Bedienung in einem eleganten weiß-goldenen Sari ihm mit strahlendem Lächeln die Speisekarte brachte. Er bestellte Chicken Korma mit 2 Chappati-Broten und gesalzener Limettensoda, genoss zwischenzeitlich den Komfort einer strahlend sauberen Toilette und erfragte an der Rezeption das Passwort für das Hotel-WLAN. Während sein Sari-Engel die Soda vor seinen Augen mixte und lächelnd das Korma servierte, kämpfte Don Curry mit der extrem langsamen Internetverbindung. So ganz war das doch noch nicht der Himmel...
Nach dem viel zu schnell verspeisten Lunch, begab sich Don Curry wieder zur Rezeption und schilderte dort seine Situation: er hatte seinen Fahrer verloren. Der Chefrezeptionist erklärte sich sofort zur Hilfe bereit, ließ Don Curry an den Rezeptionscomputer und dort die Kontaktdaten seines indischen Reisebüros googlen. Per Hoteltelefon konnte Don Curry schnell den Chef von Prince erreichen, der versprach, sofort alles zu regeln. Der Chefrezeptionist freute sich sichtbar mit Don Curry über das baldige Happy End.
Zehn Minuten später tauchte Prince besorgt und verwirrt beim Hotel Daivik auf. Er hatte gerade einen Anruf seines Chefs bekommen mit der Frage, ob er denn wisse, wo sein Kunde sei? Wohl immer noch im Tempel, antwortete Prince. Das glaube er aber nicht, erwiderte der Chef genüsslich, der Kunde würde längst im Hotel Daivik warten und Prince finden wollen. - Am Ende stellte sich heraus, dass das ganze Problem aus dem Begriff "gegenüberliegende Straße" resultierte. Don Curry hatte darunter diejenige Straße verstanden, die gegenüber der Ausstiegsstelle aus Princes Auto lag; Prince dagegen meinte die Straße gegenüber dem Tempeleingang. So hatten beide über zwei Stunden aufeinander gewartet, obwohl Prince nur rund 50 Meter von Don Currys Tempeltreppe entfernt gestanden hatte, allerdings in einer Hauseinfahrt und daher nicht direkt sichtbar. Was für ein überflüssiges Abenteuer, und was für ein überflüssiger Besuch in Rameswaram...
Prince gab Don Curry sofort seine Mobilnummer, und beide beschlossen, in der nächsten größeren Stadt für Don Curry eine SIM-Karte zu besorgen.
Die lange Weiterfahrt ins Chettinad lockerten Hunderte von Pilgern auf, die allesamt barfuß, in bunten Gewändern und meist mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Kopf am Rand der Landstraße einem fernen Tempel entgegenwanderten. In vielen Dörfern und Städten auf ihrem Weg wurden sie von der Bevölkerung durch Nahrungsmittel- und Getränkespenden versorgt. Manche sangen während des Gehens gemeinsam Pilgerlieder. Don Curry fragte sich vor allem, wie wohl ihre Fußsohlen beschaffen sein würden.
In dem kleinen Dorf Kanadukathan angekommen, war das Chettinadu Mansion bald gefunden. Es handelt sich dabei um ein riesiges Anwesen einer alten Kaufmannsfamilie, die einst im Südostasienhandel reich geworden war. Ihr Haus, eigentlich ein Palast verfügt insgesamt über 106 Zimmer, von denen 12 an Gäste vermietet werden, während die große Familie den Rest bewohnt oder anderweitig nutzt.
Vor allem die Eingangshalle und der erste Innenhof sind mit edlen Materialien ausgestattet, auch die Zimmer zeichnen sich durch individuelle, farbenfrohe Gestaltung aus: schön gemusterte Fliesen bedecken Boden, Wände und Decke, Türen und Fensterläden sind handbemalt. Antike Betten und Möbel ergänzen das besondere Flair dieser Unterkunft, auf die sich Don Curry besonders gefreut hatte. Doch nochmals bescherte ihm dieser Tag eine Enttäuschung: ihm wurde ein Zimmer im Erdgeschoss zugewiesen, ein geräumiger, aber fensterloser Raum, der zudem auch noch direkt an Küche und Frühstücksraum angrenzt. Dementsprechend früh drang Geschirrgeklapper und Besteckklirren an Don Currys Ohr. Seinen Unwillen über diesen Raum hatte er allerdings so deutlich kundgetan, dass ihm für den kommenden Tag ein Zimmer in der oberen Etage versprochen wurde: ein Zimmer mit Balkon.
Versöhnlich wirkte auch das Essen. Don Curry bestellte einfach das Komplett-Menü. Die Kaufleute des Chettinads handelten einstmals vor allem mit Gewürzen, daher konnten sie sich auch für ihre eigenen Speisen hochwertige Würzmittel leisten. Die Küche dieser Region gilt seitdem als eine der besten und aromatischsten ganz Indiens. Das Chettinadu Mansion serviert natürlich ausschließlich typische Gerichte der Gegend. Schmackhaft war tatsächlich alles, was Don Curry direkt auf dem Metallteller serviert wurde; als besonders auffällig zeigte sich ein im ganzen gebratener knallroter Fisch. Don Curry vermutete zunächst, der Fisch schäme sich, weil er so klein sei. Doch das erwies sich als falsch: der Fisch war rot vor Scham, weil er fast nur aus Gräten bestand. Begleitet wurden die insgesamt sieben Gerichte durch ein leckeres indisches Bier - erstmals kein Kingfisher, sondern British Empire, das sich mit 6 % Alkoholgehalt als "extra strong" bezeichnet. Vielleicht ein kleines bisschen übertrieben...
Don Curry war enttäuscht an diesem Tag - gleich mehrfach. Nicht alles kann wirklich so schön sein, wie man es sich ausmalt. Aber dann gibt es mindestens genauso viel, was deutlich schöner wird, als man es sich je ausmalen könnte. Doch diese Erfahrung blieb dem kommenden Tag vorbehalten...