Tshaj tawm: 22.04.2017
Gestern sind wir zu später Stunde in Lublin nach einem langen und sehr intensiven Tag angekommen. Jeder wollte auf sein Zimmer, eine kurze Dusche nehmen und nur noch schlafen. Heute Morgen, als wir uns zum Morgengebet trafen, wurde uns langsam bewusst, wo wir uns befinden. Die restaurierte Synagoge der ehrwürdigen Yeshiwat Chachmei Lublin ist erst seit kurzer Zeit wieder als solche zugänglich. Zwischen dem Krieg und der Rückgabe an die jüdische Gemeinde wurde das Gebäude von der medizinischen Fakultät der Universität Lublin verwendet. Die Synagoge diente ihr als Vorlesungssaal.
Lublin war vom 15. Jahrhundert an bis zum Krieg eine blühende jüdische Gemeinde. Obwohl die Yeshiwa, welche für ihren grossräumigen und komfortablen Campus sowie die grosse Grünfläche rund herum berühmt war, nur während neun Jahren einen täglichen Betrieb aufrecht erhalten konnte, ist sie bis heute prägend. Rabbi Meir Shapira war der Gründer und der Leiter der Yeshiwa. Er galt als aussergewöhnlicher Erzieher und war der Ansicht, dass jedes Kind nach seinen Möglichkeiten grossgezogen werden muss und dass man jedes Kind als vollwertigen Menschen zu betrachten hat. Jedes Kind soll in der richtigen Umgebung aufwachsen, um sein Potenzial voll auszuschöpfen.
Es war die Vision von Rabbi Shapira die Gemara allen Juden, nicht nur einer kleinen, gebildeten Elite, zugänglich zu machen. Bis zu seiner Zeit war es unüblich, dass sich eine breite Masse mit der Gemara auseinandersetzte. Er ist der Vater des 'Daf Jomi'. Das ist ein Lehrzyklus, mit welchem man täglich ein Blatt (zwei Seiten) Talmud lernt. Innerhalb von sieben Jahren behandelt man so die ganze mündliche Überlieferung. Heute lernen tausenden von Juden in diesem Rythmus den Talumd. Obwohl die Yeshiwa von den Nazis zerstört wurde, hat sie bis heute enormen Einfluss auf das moderne Judentum. Die Lehren und Denkweisen, die der Schule von Rabbi Shapira entspringen, werden bis heute vermittelt. Die Strahlkraft dieser Institution war und ist noch immer grenzenlos.
An einem solchen Ort (heute dient ein Teil der Yeshiwa als Hotel) zu übernachten und am Morgen zu beten, war sehr speziell und eindrucksvoll. In diesen Hallen bekommt man einen Sinn für das jüdische Leben von damals. Die Juden waren stolze Bürger Lublins und mussten sich nicht verstecken. Der imposante Bau steht mitten in der Stadt. Das Gefühl, wie sich die Juden damals ausleben, bilden und unbeschwert Menschen sein durften, lässt sich nur erahnen.
Von Yannick Nordmann und Eyal Kessler