Publicat: 18.07.2019
Don Curry weiß aus bitterer Erfahrung: Wer in heutiger Zeit touristische Highlights weltbekannter Art besuchen möchte, der muss mit zwei Plagen rechnen - Sicherheitskontrollen und Touristenmassen. Beides zusammen führt zu dem noch unerträglicherem Symptom der Anstehschlangen. Mit Grausen denkt Don Curry an ein fast traumatisches Erlebnis des letzten Jahres zurück, als er noch einmal das Schloss von Versailles besichtigen wollte. Eine Stunde stand er in der Schlange vor dem Ticketschalter, um eine Eintrittskarte zu bekommen; und danach stand er über drei Stunden in der Schlange, um mit der Eintrittskarte auch ins Schloss zu kommen - den Sicherheitskontrollen sei gedankt!
Als Don Curry heute fast zum Öffnungszeitpunkt der Eremitage auf dem Schlossplatz eintraf, war die Anstehschlange bereits auf rund 150 m angewachsen. Vor der Eremitage-Dependance im gegenüberliegenden Generalstabsgebäude betrug die Schlange nur ca. 30 m. Da Don Curry dieses Museum sowieso eingeplant hatte, stellte er sich dort an. Nach ca. 40 Minuten hatte er die stauverursachende Sicherheitskontrolle absolviert, eilte zu einem der zahlreichen Ticketschaltern und erfuhr, dass das Museum heute kostenlos sei, 700 Rubel, fast 10 € gespart.
Um dieses Museum vor einigen Jahren anzulegen, war das Generalstabsgebäude in seinem Inneren massiv verändert worden. Der gesamte Empfangsbereich des Erdgeschosses wirkte ultramodern, mit zahlreichen Monitoren, projizierten Hinweisschildern und einer gewaltigen breiten Treppe zum Ausstellungsbereich, die zugleich als Sitzgelegenheit für Konzerte genutzt werden konnte. In bewusstem Kontrast zu dieser puristischen Gegenwartsgestaltung hatte man einige der ehemals in diesem Gebäude beheimateten Räume des zaristischen Finanzministeriums und des zaristischen Außenministeriums liebevoll restauriert. Besonders letztere sollten einen ausländischen Gesandten mit ihrer überbordenden Pracht sicherlich blenden und einschüchtern.
Don Curry fuhr per Lift gleich in den obersten, den 4. Stock, um sich die umfangreiche Sammlung französischer und anderer Impressionisten und ihrer Nachfolger zu widmen. Genussvoll tauchte er ein in eine ungeahnte Vielfalt wenig bekannter Werke umso bekannterer Meister: Van Gogh, Monet, Manet, Cézanne, Gauguin, und viele andere mehr. Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts galten viele dieser Werke als verschollen, weil sie Beutekunst aus Deutschland waren. Im Generalstabsgebäude haben sie nun eine neue Heimat gefunden und können der gesamten kunstinteressierten Welt präsentiert werden.
Besonders beeindruckte Don Curry ein Raum, der das Musikzimmer des Moskauer Kunstsammlers Iwan Morozow nachstellt. Der begüterte Mäzen hatte 1908 für Decke und sämtliche freien Wandflächen großformatige Gemälde bei dem Pariser Künstler Maurice Denis bestellt. Noch im selben Jahr lieferte der Künstler. Erst seit Eröffnung des neuen Museums ist dieses Gesamtkunstwerk öffentlich erlebbar.
Ein weiterer Teil des Museums widmete sich der Kunst der Zarenzeit. Neben prachtvollen Gemälden konnte hier ein echtes Fabergé-Ei als absoluter Höhepunkt der Ausstellung gelten.
Nach soviel Kunstgenuss stand Don Curry der Sinn nach Sättigungsgenuss. Wieder einmal half der "Lonely Planet", der das Museumscafé sehr empfohlen hatte. So bestellte Don Curry am Tresen ein Roastbeef-Sandwich, ein "Wok with Chicken" und Cola Zero. Bis auf das Wok-Gericht konnte er das Gewünschte mitnehmen und genießen. Nach Verzehr des üppig belegten Sandwichs stand auch bald die Wok-Schüssel vor ihm, der Inhalt wesentlich authentischer als das Pseudo-japanische Teppanyaki aus dem gestrigen "Eurasia"-Restaurant. Heute gab es sojagetränkte Nudeln, würziges Hühnchen, fast noch knackiges Gemüse und sogar frischen Koriander. Don Curry fehlten nur ein paar Cashews, aber das ist sein persönlicher Geschmack.
Als Don Curry das Museum mehrfach gesättigt - wie eine Fettsäure - verließ, regnete es wieder. Er hatte es vorher schon aus den Fenstern beobachten können. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Hotel, bestieg Don Curry abermals sein Auto, um gen Puschkin zu fahren. Heute musste Katharina ihren Palast für ihn öffnen!
Er war abgefahren, um gegen 16:00 Uhr anzukommen - wie ihm die Kassiererin gestern empfohlen hatte. Er kam 40 Minuten später an, dank des Sankt Petersburger Verkehrs. Ausgerüstet mit seinem blauen Solowetzky-Regenumhang begab er sich zum Parkeingang. Beim obligatorischen Bezahlen des Parktickets meinte die verkaufende Dame gleich: heute seien so viele Menschen da, er hätte keine Chance, in den Palast zu kommen. Allmählich wuchs in Don Curry die Vermutung, dass die Park-Kassiererinnen grundsätzlich vom Palastbesuch abraten, um auf diese Weise die Anstehschlangen zu begrenzen. Heute war es Don Curry egal, er kaufte todesmutig sein Parkticket - zum Missvergnügen der ausstellenden Verkäuferin - und strebte zum Eingang der Palasttour I, die er auch favorisierte. Die Schlange reichte fast bis zum Schild "Ab hier 4 Stunden Wartezeit".
Don Curry sah diese Chance aussichtslos, denn in 2 Stunden würden die Kassen im Palast schließen. Also ging er zum Eingang der Palasttour II. Die hiesige Schlange war längst nicht so ausgedehnt, und Don Curry erlaubte sich eine unfaire Finte. Es regnete bereits die ganze Zeit. Im Schutz fremder Regenschirme gesellte sich Don Curry einfach zu einer Gruppe, die nur rund 10 m von der Zulassung zu Tour II entfernt war. Aufgrund der durch die Schirme eingeschränkten Sicht bemerkte es niemand, aber Don Curry sollte die Strafe für sein Verhalten sehr bald zu spüren bekommen. Er landete in einer Gruppe, die aus lauter lauten Chinesen bestand. Jeder redete mit jedem, mit gehobener Lautstärke, damit man die anderen übertönen konnte. Körperkontakt war auch kein Problem für diese Zeitgenossen, und heftiges Drängeln sowieso nicht. Mehrfach musste Don Curry schnell den Kopf wenden, damit ihm plötzlich bewegte Schirme nicht die Augen ausstachen. Irgendwann gerieten zwei Chinesen so sehr in Streit, dass ihr aggressives Brüllen sogar die stoischen russischen Museumswächter beunruhigten, die den Zugang zum Palast bewachen mussten. Ab und zu ließen sie ein paar Touristen durch, und Don Curry näherte sich allmählich seinem Ziel.
Die Chinesen schienen wohl aus dem Süden ihres Landes zu stammen, denn sie litten erkennbar unter der Kälte dieses Tages. Nach und nach verabschiedeten sich kleine Gruppen der Ostasiaten, so dass Don Curry immer mehr nach vorn rückte. 90 Minuten hatte er bereits im strömenden Regen, im unfreiwilligen Körperkontakt zu seinen Nachbarn und in brachialer Lautstärke der umgebenden Chinesen verbracht, da stand er endlich ganz vorn an der Absperrung. Allmählich wurden die Chinesen auf ihn aufmerksam, bewunderten seine herausragende Größe und sprachen ihn an. Doch sein Chinesisch reichte über das Wort für "Danke" nicht hinaus, er fragte, ob sie Englisch sprechen würden. Eine ältere Chinesin antwortete, dass sie Englisch spreche. Sie fragte ihn aus, wo er herkäme, was er hier wolle - und vor allem, ob er die Wächter verstehen könne. Nein, musste Don Curry gestehen, diese rein russischsprachigen Gesellen könne auch er nicht verstehen.
Doch kurz darauf machte einer der Museumswächter sehr deutliche Zeichen: hier würde keiner mehr hinein kommen, der Palast sei ausgebucht. Don Curry spürte Frust und Wut in sich aufsteigen. Nach dieser extrem strapaziösen Anstehschlange einfach nur ein Misserfolg? Die Chinesen stoben davon und Don Curry folgte. Sie eilten zum Eingang der Palasttour I. Hier hatte sich inzwischen die Schlange auf 10 m reduziert. Und so stand Don Curry wieder mit "seinen" Chinesen vereint erneut an, um auch die allerletzte Chance zu nutzen oder zu verlieren - bis zum bitteren Ende.
Um 18:40 Uhr - 5 Minuten vor Verkaufsschluss öffnete sich die Tür zum Palast für alle noch Wartenden. Don Curry eilte sofort zum Ticketschalter und bekam für 1000 Rubel (= 14 €) seine Eintrittskarte in den Katharinenpalast. Schnell wollte er sich noch einen Audio-Guide besorgen, um wenigstens etwas von der Besichtigung zu verstehen. Der junge Mann an der Audio-Guide-Ausgabe erklärte, er müsse ein Ticket für den Audio-Guide am Ticketschalter kaufen. Also bewegte sich Don Curry schnell zurück, orderte ein Audio-Guide-Ticket, die Kassiererin nickte und zeigte ihm einen Zettel, auf dem in Englisch und Russisch stand. "Alle Audio-Guides sind tot!" Don Curry verstand: eine Besichtigung mit Audio-Guide könnte zu langwierig sein, die letzten Touristen mussten schnell durch den Palast gedrängt werden. Loswerden wollte er aber auf jeden Fall noch sein tropfendes Solowetzky-Cape und seine ebenfalls ziemlich durchfeuchtete Jacke, beides gab er an der Garderobe ab und stellte sich bei der langen Schlange zur Ticketkontrolle an. Einige Zeit bildete er tatsächlich das Ende der Schlange und fühlte sich schon als letzter Tourist des Tages. Doch dann kamen noch andere Gruppen und schoben ihn weiter nach vorn.
So landete Don Curry wieder in der schon vertrauten Chinesen-Gruppe, erntete manches Lächeln, und musste erleben, dass der Wächter vor der Ticketkontrolle alle Jacken der Chinesen auf Feuchtigkeit kontrollierte und fast alle zur Garderobe zurückschickte. Dann entdeckte er den überragenden Don Curry in der kleinwüchsigen Gruppe, kontrollierte sein Ticket und schickte ihn in den Palast. Schon stapfte Don Curry vorfreudig die Treppe des chinesischen Treppenhauses empor, als ihm auffiel, dass alle anderen Touristen Plastiküberzieher über ihren Schuhen trugen. Also kehrte er um, fand die Kiste mit den Überziehern, legte sie an und eilte zur Treppe zurück, wo er wieder die altvertrauten Chinesen traf, mit denen er nun auch weiterhin durch den Palast zog. Ein besonders Kleinwüchsiger wollte sich unbedingt mit ihm im Spiegelsaal fotografieren lassen, wobei seine Frau bei diesem Größenunterschied wohl die Kamera auf Weitwinkel stellen musste.
Der Palast überzeugte Don Curry ob seiner Großartigkeit und dekadenten Prachtentfaltung. Besonders faszinierte natürlich das Bernsteinzimmer, in dem gleich zwei gestrenge Aufpasserinnen jeden Fotoversuch im Keim erstickten. In allen anderen Räumen durfte zumindest ohne Blitz fotografiert werden, was nicht nur die Chinesen, sondern auch Don Curry ausgiebig nutzten.
Nach bekannt langwieriger Rückfahrt verspürte Don Curry keine Lust mehr, bei dem weiterhin aktiven Regen irgendein Restaurant aufzusuchen, er blieb einfach im Hotel, das ein Café-Restaurant im 5. Stock betreibt, mit grandiosem Ausblick auf die verunstaltete Auferstehungskirche. Hier bestellte er eine sibirische Fischsuppe, die außer reichlich Fischstücken auch Wodka enthielt, und anschließend ein Hühnchen nach Kiewer Art, also mit Kräuterbutter gefüllt und kräftig paniert, dazu gab es tatsächlich russisches Bier aus Sankt Petersburg: Baltika 7.
In einem Punkt war Don Curry froh: Heute gab es keine Anstehschlangen mehr, weder im Restaurant, noch vor seinem Zimmer, noch vor seinem Bett. Ein herrlicher Gedanke...