Uñt’ayata: 02.10.2021
Es geht ans Meer!
Die letzte Reisewoche beginnt und am Montagnachmittag sind wir der Ansicht, nun unsere Sohlen genügend auf provenzalischen Pflastersteinen abgetreten zu haben.
Die Erkundung der gegenwärtigen Camperbedingungen an den Stränden der Carmargue steht auf dem Programm und Muscheln sammeln, Strandspaziergänge, Sonne für den Winter vortanken, faul sein, Löcher in die Luft gucken, Möwen ärgern, Kiter bestaunen, Treibholz zu Kunstwerken stapeln, ach und was noch alles.
Also los, jetzt gehts ans Meer!
Nach einer windigen Nacht in den Alpillen ist unser erstes Ziel Port-St-Louis auf der östlichen Seite der Rhône-Mündung.
Hier können wir etwa 2km weit am Strand entlang fahren.
Vom Ufer sind wir ungefähr 100m entfernt, für das ganz große Vergnügen ein bisschen zu weit, aber wir wollen das Beste draus machen.
Ein Parasol hat keinen Platz im Twingo gefunden und so bleiben wir am Wohnmobil und spannen einen Schutz vor Sonnenbrand und roten Nasen. Wir haben Blick aufs Wasser, der Wind spielt sanft mit unserem Haar, das Wellenrauschen lässt sich erahnen und die Sonne wärmt uns Herz und Haut.
Bis zur Rhône-Mündung sind es 3 km, ein gemütlicher Spaziergang mit den Füßen im Wasser.
Dort angekommen staunen wir wieder einmal über die Mengen an Strandgut und Treibholz. Alles was der große Fluss auf seinem Weg aus den Alpen bis hierher mit sich reisst, bleibt scheinbar unbeachtet hier liegen.
Wahre Schätze an Naturkunstwerken gibt es in unüberschaubarer Zahl zu bewundern. Am liebsten würden wir alles einpacken, um zu Hause die Terrasse zu verschönern.
Aber nun ja, ihr kennt unser Problem schon, wir haben keinen Transporter, sondern einen Mikro-Camper. Deshalb wählen wir gemeinsam ein besonders wunderbares Stück gestrandetes Holz aus und planen Schutzmassnahmen vor Bibas.
Die Mündungen großer Flüsse sind oft seltsam unspektakulär. Das habe ich schon am Ebro festgestellt. Über viele Kilometer sind diese mächtigen Ströme breit und respekteinflößend, können verheerende Überflutungen verursachen oder wunderbare Naturschätze beherbergen. Doch am Ende ihrer Reise folgt das unendlich weite Meer und sie verlieren sich einfach so darin. Kurz ändert sich die Strömung oder der Wind bläst aus einer anderen Richtung und schon bist du an der Mündung vorbeigeschlendert und hast es beinahe nicht bemerkt.
Wohl bemerkt hat das eine Frau mit Fahrrad, die mit uns gemeinsam diesen Ort erreicht. Ein bisschen außer Atem und mit vor Aufregung geröteten Wangen bittet sie mich, ein Foto von sich und ihrem Rad zu machen. Ich überlasse das Zappa, er ist der bessere Fotograf. Währenddessen erzählt sie mir voller Stolz, dass sie in 10 Tagen die ViaRhôna geradelt ist, 800km von Genf bis hierher zum Ende des Flusses am Meer.
Ich gratuliere ihr, sie lacht, reißt die Arme triumphierend hoch und freut sich und wir uns sehr gern mit ihr. Doch in diese Freude platzen 1000 Mücken, die im dichten Gebüsch am Rhône-Ufer nur auf uns gewartet haben.
Viel los ist hier im Moment nicht, die Biester sind ziemlich ausgehungert. Madame Vélo hat wirklich Glück, dass wir zufällig gleichzeitig hier eintreffen. Die Plagegeister hätten wohl keinen Schnappschuß von ihr gemacht.
Wir ergreifen die Flucht, während sie sich eine kurze Besinnungspause am Ziel ihrer Fahrt auch nicht von den Mücken nehmen lässt.
Auf dem Rückweg haben wir klare Sicht auf die Calanques bei Marseille, die dicken Öltanks mit den Schornsteinen der Raffinerie und das Stahlwerk mit den schwarz qualmenden Hochöfen von Fos-sur-Mer. Das ist immer wieder beeindruckend in Frankreich: hier kann Naturschutz und schmutzige Industrie auf engstem Raum bestaunt werden.
Zurück am Auto bereiten wir den Twingo schon mal für die Nacht vor. Zappa kurbelt mit langem Arm und viel Geduld die Lehnen der Sitze nach vorn, ich verstaue Rucksack, Sonnenhüte, Käsedose und was sonst noch so auf meiner Bettseite herumliegt. Und auch aus Zappas Bett müssen Dinge entfernt und an anderen Stellen untergebracht werden, möglichst raubtier- und regensicher.
Am Horizont kündigt sich wiedereinmal ein farbenprächtiger Sonnenuntergang an, wir nehmen Position ein, das Abendessen dabei vorbereitend.
Und: aaaah-merveilleux-magnifique-formidable-fantastique!
Jetzt ist die Sonne weg. Der Wind auch. Komplett. Kein Lüftchen mehr. Totale Flaute.
Dafür ist die erste Mücke da.
Sie kommt nicht allein. Natürlich nicht. Sie kommt in Massen.
Unser Essen ist fertig. Die ersten Exemplare umschwirren den warmen Topf. Wir präsentieren kaum nackte Haut, da mit dem Schwinden der Sonne die Temperaturen es ihr gleich tun. Hände und Gesichter sind unbedeckt, dafür dick mit Autan und Zitronengras eingesprüht.
Zappa nimmt Topf und Stuhl, weist mich an, den Rest zu nehmen, es ihm gleich zu tun und wandert an die Wasserkante.
Ich folge ihm. Mir folgen Mücken. Ungefähr drei Millionen. Und nein, das ist keine Übertreibung!
Überall sind Mücken! Sie schwirren in unvorstellbarer Zahl um mich herum, ich habe so etwas noch nie erlebt. Sie sind überall, sie sind auf meiner Kaputze, meinen Armen, meinen Händen, auf dem Rücken, in riesigen Schwärmen über, vor und hinter mir. Es summt in höchsten Tönen und Zappa ergeht es am Meeresufer nicht besser. Ich glaube, ihn erobern gerade Mücken. Vier Millionen. Keine Übertreibung.
Wir sind völlig machtlos. So stelle ich mir Hichcocks Thriller vor.
Wir treten den Rückzug an. Vorerst zurück zum Mikro-Camper.
Doch was nun?
Alle Blutsauger sind uns gefolgt, wir sind gut eingepackt, sie kommen nicht zum Stich.
Eine Übernachtung ist unmöglich, ja nicht einmal die Nahrungsaufnahme kann erfolgen. Das Auto ist schon umgebaut, ein Haufen Krempel muss weg, damit wir auf und davon fliehen können!
Zappa schnappt sich, was ihm vor die Nase kommt, reißt eine Tür auf, schmeisst es in das Fahrzeug und die Tür wieder zu. So verfahren wir weiter, bis all unser Hab und Gut irgendwie in unserem derzeitigen Zuhause liegt.
Überall sind Mücken. Es ist kaum zu beschreiben. Milliarden Mücken. Sie sirren, summen, flirren und wetzen die Stacheln.
Die Lehnen der Sitze sind noch immer ganz nach vorn gekurbelt. Es dauert ewig, sie wieder so einzustellen, dass wir halbwegs sitzen können!
Es nützt nichts, es muss sein! Türen auf, Kurbel drehen, reinspringen und abhauen! Nichts wie weg! Natürlich haben Tausende Biester den Weg in den Twingo gefunden. Wir reißen alle Fenster auf, Zappa rast mit Höchstgeschwindigkeit über den Sand, ich versuche die Plagegeister mit Gewalt rauszuschmeißen. In wilder Fahrt geht es die zwei Kilometer bis zur asphaltierten Strasse und weiter und weiter und weiter!
Irgendwann kommen wir in Port-St-Louis an. Auf einem Supermarkt-Parkplatz hält Zappa und vertreibt wie ein Berserker in rastlosem Kampf-Tanz mit dem Marmottes-Geschirrtuch vom letzten Flohmarkt noch mindestens 200 000 Blutsauger aus unserem kleinen Camper. Irgendwann beendet er am Ende seiner Kräfte die Jagd.
Wir schauen uns fassungslos an und müssen nun laut lachen.
Sowas haben wir noch nicht erlebt. Wir haben schon Mückenschwärme kennengelernt, Oder und Po haben uns gelehrt, Respekt vor noch so kleinen Insekten zu haben. Aber das! Unbeschreiblich! Das glaubt uns keiner!
Auf dem Parkplatz können wir endlich unsere Mahlzeit beenden, auch wenn es hier und da noch summt. Das sind wohl die von uns importierten Plagegeister, die sich jetzt im angrenzenden Wohngebiet gütlich tun.
So endet dieser Tag am Meer, zur Nacht kehren wir zurück in die windigen Alpillen. Hier werden fiese Moskitos einfach davon geblasen.