Publicat: 03.07.2019
Don Curry frühstückt nicht gern. Das ist kein Geheimnis. Eigentlich hält er 3 bis 4 Mahlzeiten pro Tag für reichlich überproportional. Mittagessen und Abendessen, klar. Und vielleicht noch eine Kleinigkeit am Nachmittag. Aber Frühstück? Am frühen Morgen? Gleich nach dem Aufstehen? Wenn die Speiseröhre noch von vergangenen Zeiten träumt, der Magen vor sich hindämmert und der Darm nur alles von Gestern los werden will? Nein, danke!
Doch Don Currys Hotel hatte gestern von ihm verlangt, dass er aus dem Frühstücksmenü nicht nur eine Mahlzeit wählt, sondern zwei. Da heute keine lange Fahrstrecke auf dem Programm stand, konnte sich Don Curry sein Zwangsfrühstück für 9:00 Uhr vorstellen. Aufopferungsvoll begab er sich in den Restaurantbereich des Hotels. Eifrig eilte ein junger Kellner auf ihn zu und fragte ihn irgendetwas auf russisch. Don Curry antwortete mit "26", denn das war seine Zimmernummer, und auf diese Nummer hatte er gestern zwei Bestellungen aufgegeben. Eifrig nickte der Kellner, eilte zur Rezeption und kam mit der Frau zurück, die ihn gestern in Empfang genommen hatte und wohl als einzige Englisch sprach. Sie übersetzte die Frage des Kellners: "Kaffee oder Tee?" "Kaffee", antwortete Don Curry und nahm sich vor, seine Russischkenntnisse auf mindestens 10 Begriffe zu erweitern. Außerdem forderte ihn die Rezeptionistin auf, sich am Frühstücksbuffet zu bedienen. Das Buffet nahm deutlich weniger als einen Quadratmeter ein und war angesichts der vorbestellten Gerichte auch alles andere als notwendig. So holte sich Don Curry auch nur eine Käsestange, ein paar Gurkenscheiben und Tomatenstücke.
Dann kam der Kaffee, kräftig und bitter; und danach die vorbestellten Frühstücksgerichte: ein mächtiges, dickes Stück Zwiebelkuchen mit saurer Sahne und ein Teller Haferbrei mit Nüssen und Beeren, mit ordentlich Sahne aufbereitet. Don Curry muss zugeben, dass beides nicht schlecht schmeckte - eigentlich war es sogar überaus lecker, aber jeder Bissen, jeder Löffel war ein echter Kampf. Zwischendurch orderte er noch einen zweiten Bitterkaffee und bewältige schließlich beide Portionen. Vollgestopft, unbeweglich, kaloriengetränkt begab er sich zum Auto, um seine heutigen Erkundungen im Osten und Norden des Kaliningrader Gebietes zu starten, doch das Auto hatte man zugeparkt. Der Besitzer des russischen Ladas hatte zwar ein Schild mit seiner fett gedruckten Handynummer hinter der Windschutzscheibe angebracht, doch Don Curry fürchtete, dass er sich mit "Guten Tag", "Danke" und "Auf Wiedersehen" in dieser Situation nicht ausreichend verständlich machen würde.
So nahm er den Wink des Schicksals dankbar an, um die gestern verschobene Dombesichtigung nachzuholen. Sein erster Weg führte ihn allerdings zum Grab des großen Denkers Immanuel Kant, das an der Außenseite des Doms angebracht war und das auch zu Sowjetzeiten durchaus verehrt wurde. Bis heute hält sich der Brauch, dass jedes Brautpaar einen frischen Blumenstrauß beim Vater des "Kategorischen Imperativs" ablegt. Dass Kant mal zum volkstümlichen Glücksbringer mutiert, hätte er selbst sich wohl auch nicht erdenken können.
An Glück mangelte es allerdings auch Don Curry: Vor dem Dom hatten sich Massen junger Menschen und ihrer Eltern und Großeltern versammelt. Vermutlich fand gerade eine Feier zur Schulentlassung statt, so dass eine Besichtigung des Doms vorerst ausgeschlossen war. Don Curry nahm's mit hochgesättigter Gelassenheit, suchte sich eine Bank im prallen Sonnenlicht und begann einfach nur zu sitzen. War das jetzt schon ein Frühstückskoma? Egal, Don Curry lebte den Augenblick und widmete sich hingebungsvoll dem Frühstücksverdauen.
Nach fast 2 Stunden dösigen Müßiggangs auf der Sonnenbank war der Dom samt Vorplatz immer noch mit jungen Menschen und Angehörigen gefüllt, sein Auto weiterhin zugeparkt und das Post-Frühstücks-Trauma in seinen Innereien weiterhin demotivierend. Don Curry zog sich auf sein Zimmer zurück und gönnte sich einen ausgiebigen Frühstücksschlaf zur Mittagszeit.
Als er erwachte, hatte sich die Situation grundlegend geändert: das Völlegefühl war entschwunden, sein Auto nicht mehr zugeparkt und die Menschenmasse rund um den Dom aufgelöst. Voll neu entfachten Tatendrangs beschloss er, doch noch etwas die Umgebung Kaliningrads zu erkunden. Sein erstes Ziel lag bereits kurz hinter der Stadtgrenze. Am Rande des Dorfes Rodniki und ganz in der Nähe des Flusses Pregel stand - wie durch ein Wunder - immer noch eine gotische Backsteinkirche aus der Ordensritterzeit. Im Krieg kaum beschädigt musste sie allerdings unter der jahrzehntelangen Vernachlässigung leiden, was ihrer Bausubstanz erheblich zusetzte. Berühmt war sie vor allem durch umfangreiche mittelalterliche Wandfresken im Innenraum, gerade die fielen nach und nach Kälte und Feuchtigkeit zum Opfer. Irgendwann übernahm die russisch-orthodoxe Kirche dieses ehemalige Schmuckstück, renovierte gründlich und gestaltete das Innere entsprechend der orthodoxen Liturgie rigoros um: Ikonostase und viele weitere Ikonen und Schmuckelemente überdecken inzwischen die meisten verbliebenen Freskenreste. Doch konnte zumindest das Bauwerk auf diese Weise gerettet und sogar zum beliebten Ziel von Bootsfahrten aus Kaliningrad werden.
Don Curry kam nicht mit dem Boot, sondern wie gewohnt auf vier Rädern, stellte sein Auto ab und ging auf die Katharinenkirche zu, die von außen einen sehr schmucken Eindruck machte. Auch das gesamte Gelände um die Kirche zeigte sich in einem sorgfältig gepflegten Zustand: mit Blumenrabatten, einigen volkstümlichen Holz- und Steinskulpturen und kräftig bemalten Häusern am Rand des Geländes. Ein kräftig bebarteter Mann - vermutlich der zuständige Pope - war gerade in ein Gespräch mit einer Frau vertieft, rief Don Curry aber etwas zu. Der stellte seine Standardfrage nach Englischkenntnissen, die der Pope klar verneinte. Aber er fragte noch einmal auf russisch und machte zugleich die unverkennbare Geste des Aufschließens. Don Curry nickte erfreut - und so entstand eine recht wortlose, aber gestenreiche Begegnung und echte Kommunikation.
Der Pope verabschiedete die Frau, holte den Schlüssel und gab Don Curry Zugang zum Inneren der Katharinenkirche. Er erblickte einen sehr hellen und geradezu modern wirkenden Raum. Eine offensichtlich recht neue Ikonostase mit hellem Holz bildete bei weitem das auffälligste Inventar. Aber auch die übrigen Ikonen an den Wänden, das große Kreuz, die Ständer für die Kerzen - all das wirkte wie direkt aus dem Laden gekauft. Der Pope führte indes Don Curry zunächst zu zwei Stellen an der Wand, wo doch noch einige Reste der ursprünglichen Fresken geblieben waren - wenn auch arg verblasst. Don Curry fragte wortlos, ob er fotografieren dürfe, der Pope nickte eifrig und gab mit einer weit ausholenden Bewegung die gesamte Kirche zum Ablichten frei. Dann holte er ein russisches Buch über die Kirche, zeigte Don Curry Fotos vom ursprünglichen Zustand vor dem Krieg, machte sein Bedauern über die Folgen des Krieges deutlich und blätterte dann weiter zu Bildern vom heruntergekommenen Zustand vor der Renovierung. Mit prächtigen Fotos von der Neueinweihung 2017 als orthodoxe Kirche schloss er seinen geschickten wortlosen Abriss der hiesigen Kirchengeschichte. Don Curry brachte in Mimik und Gestik seine Freude und Dankbarkeit über die spontane Kirchenführung zum Ausdruck und wollte dem Popen einen Geldschein zukommen lassen. Doch der lehnte ab und wies auf einen Spendenbehälter an der Wand. Seine Armbewegung machte klar, dass Don Currys Beitrag der weiteren Erhaltung der Kirche zugute kommen würde. Mit einem russischen "Auf Wiedersehen" verabschiedete sich Don Curry von seinem unerwarteten Führer und fuhr dem nächsten Ziel entgegen, der mittelalterlichen Kirche von Uschaschowo.
Auch diese Kirche - so hatte Don Curry gelesen - war perfekt restauriert und ihrer neuen Bestimmung als orthodoxe Dorfkirche übergeben worden. Sie steht genau in der Mitte einer winzigen Siedlung, die eigentlich nur aus einer Ringstraße rund um die Kirche besteht. Weiß getünchte Wände leuchteten schon von weitem aus dem Rest der Häuser heraus; die naturbelassenen Feldsteine in den Mauern gaben dem Kirchlein einen geradezu archaischen Eindruck. Doch leider kam Don Curry hier nicht näher heran. Bereits das Kirchengelände war weiträumig eingezäunt, die einzige Tür im Zaun abgeschlossen; es zeigte sich auch kein Mensch weit und breit, der vielleicht ein freundlicher Pope mit Schlüssel sein könnte. So konnte Don Curry nur ein paar Fotos aus der Entfernung machen und kehrte nach Kaliningrad zurück.
Sein nächstes Ziel sollte die Ostseeküste sein, genauer das ehemals bedeutende Strandbad Rauschen, heute Swetlogorsk. Schon beim Erreichen des Küstenviertels bedauerte Don Curry sein Frühstückskoma: hier hätte er gern mehr Zeit verbracht. Inmitten einer mit vielen alten Bäumen bestandenen parkähnlichen Landschaft, erhoben sich zahlreiche prachtvolle und farblich stark akzentuierte Villen, meist aus Holz gebaut und in bemerkenswert gutem Zustand. Rauschen war schon früher eher ein Bad für die High Society gewesen, nicht für den Massentourismus. Wer sich hier eine Villa leisten konnte, der hatte es im Leben zu etwas gebracht. Daran schien sich nichts geändert zu haben.
Da es inzwischen bereits 17:00 Uhr war, musste sich Don Curry auf die Strandpromenade beschränken. Diese Promenade verfügte über zwei echte Besonderheiten. Schon immer lag sie zu Füßen einer mächtigen Steilküste, so dass es nur wenige Zugangsmöglichkeiten zur Promenade gab; und seit einer verheerenden Sturmflut im Jahr 2005 gibt es keinen Strand mehr, selbst ein Teil der Promenade fiel damals den Naturgewalten zum Opfer. Dennoch flanieren bis heute zahlreiche Besucher am Meer entlang und nutzen das vielfältige kulinarische Angebot - von der Imbissbude bis zum Gourmetrestaurant eines neu gebauten Luxus-Hotels.
Don Curry stand immer noch kein Sinn nach Kulinarik in irgendeiner Form. Er stellte einfach sein Auto an einer steilküstennahen Straße ab und entdeckte kurz darauf ein Schild, das auf eine Seilbahn hinwies. Schon zu Kaiserzeiten hatte eine Seilbahn die einfachste Verbindung zwischen Ort und Strand dargestellt. Zu Sowjetzeiten war eine neue Kabinenbahn entstanden. Beim Anblick der winzigen quietschgelben Kabinen beschloss Don Curry, nicht darüber nachdenken zu wollen, ob er sich einem derartigen Transportmittel sowjetischer Herkunft anvertrauen sollte. Er schritt tapfer zum Fahrkartenschalter und orderte ein Ticket. "Hin und zurück?", fragte mit nur leicht akzentbehafteten Deutsch die Kassiererin. Angenehm überrascht bestätigte Don Curry, zahlte insgesamt 100 Rubel (= 1,40 €) und bedankte sich auf Deutsch. Gern hätte er in Erfahrung gebracht, ob die Frau deutsch-ostpreussische Wurzeln hatte, oder ob sie einfach nur deutschen Touristen hilfreich entgegen kommen wollte, doch der Kabinenwart winkte ihm schon.
Don Curry quetschte sich mühsam in eine der Kabinen, in der er gerade so sitzen konnte, aber keinesfalls aufrecht stehen. Mit aufreizender Langsamkeit ging es abwärts, immer mehr der Ostsee entgegen, deren kraftvolles Rauschen immer lauter wurde. War das der Grund für den deutschen Namen des Ortes? Die Ostsee gebärdete sich hier tatsächlich wie ein ziemlich wildes Meer, das mit hohen Wellen auf die Uferpromenade zutoste. Don Curry genoss die urtümliche Naturgewalt, gepaart mit dem milden, aber immer noch wärmenden Licht der Abendsonne.
Nach fast einer Stunde des Ruhens und Abschreitens der Promenade überließ er sich der aufreizend langsamen Rückfahrt mit der Seilbahn, bestieg sein Auto und wollte nach Kaliningrad zurückkehren. Doch ein Abenteuer hatte er sich für heute noch vorgenommen: er musste tanken. Bereits bei seiner Ukraine-Reise hatte er erfahren, dass man im östlichsten Europa erst zahlt und dann tankt, anders als gewohnt. So fuhr er an die Zapfsäule seines Vertrauens heran, ging direkt zur Kassiererin im Tankstellengebäude, sagte ihr auf russisch die Nr. der Zapfsäule und zahlte 2500 Rubel (= 35 €). Dann kehrte er zur Zapfsäule zurück, tankte voll und bemerkte, dass er zuviel gezahlt hatte; also wieder zur Kassiererin, die bereits dabei war, das überzählige Geld herauszusuchen. Das Volltanken hatte Don Curry insgesamt 28 € gekostet, der Liter Super zu 0,67 €. Warum nur ist Russland so weit weg, dass sich eine Fahrt zum Volltanken so gar nicht lohnt?
Zurück in Kaliningrad beschlich Don Curry die Erkenntnis, dass selbst das üppigste Frühstück nicht den ganzen Tag vorhält. Sein Magen meldete tatsächlich Arbeitslust an. Don Curry hatte schon im Vorfeld erkundet, dass sich fast direkt neben seinem Hotel ein exklusives Fischrestaurant etabliert hatte. Das schien ihm nach dieser Stunde am Meer durchaus angemessen. Schon beim Betreten des Etablissements wurde dessen Exklusivität mehr als offenkundig. Gleich drei Angestellte stürzten sich auf Don Curry, nahmen ihm die Jacke ab, smalltalkten in geflissentlichem Englisch und geleiteten ihn zu einem Platz direkt am Pregelufer - mit Blick auf den Dom. Don Curry fühlte sich durchaus geschmeichelt, doch an freien Plätzen mangelte es derzeit wirklich nicht; nur ein anderer Tisch war besetzt.
Aus der umfangreichen mehrsprachigen Speisekarte wählte Don Curry ein Krebsfleisch-Gunkan mit hausgemachter Wasabi, danach gegrillte Streifenbarbe mit Trüffel-Kartoffel-Pürree, begleiten von einem Glas Chablis. Hier wirkten echte Profis in der Küche: Sowohl die mit Gurkenscheiben umhüllte Sushi-Art, als auch das rothäutige, auf den Punkt gegrillte Fischfilet ließen keine Wünsche übrig. Derart exklusive Genüsse erforderten auch exklusive Preise, für russische Verhältnisse quasi exorbitante Preise. Doch Don Curry hatte schon teurer gegessen, und nach dem aufgezwungenen Quantitäts-Frühstück stellte das selbst gewählte Qualitäts-Dinner auch eine Art Wiedergutmachung dar. Don Curry war zufrieden.
Bei der Rückkehr ins Hotel wedelte die Rezeptionistin beim Erblicken Don Currys mit einem ganz besonderen Zettel. Don Curry hatte es geahnt, aber bis jetzt zu verdrängen versucht: er musste sein Frühstück für morgen vorbestellen. Zwei Gerichte!