Und täglich grüßt das Murmeltier ...kleinstädtisch familär vs. großstädisch anonym

Публикувано: 17.07.2017

Wenn man seine Privatsphäre schätzt, gerne auch mal unkonventionelle Dinge tut oder vielleicht das ein oder andere Geheimnis hat, das von den Mitmenschen unentdeckt bleiben soll, zieht man besser nicht nach Brixen. Oder muss sich verdammt gut organisieren. Denn, die Wahrheit ist : hier kennt jeder jeden. Auch wenn ich das am Anfang für reichlich übertrieben gehalten habe - nach bereits einem Monat ist mir kein Gesicht mehr fremd. Das fängt morgens auf dem Weg zur Arbeit an: Der Busfahrer, der mir etwas mürrisch entgegenblickt - schon fast ein alter Bekannter. Ich glaube er fährt die Strecke Vahrn - Brixen - Milland den ganzen Tag , vielleicht sogar so wie die Circle-Line in London. Der junge Pakistani, der an der nächsten Station einsteigt, ist der Kellner in dem Restaurant, in dem ich jeden Tag zu Mittag esse. Er scheint mich auch wiedererkannt zu haben, nickt mir leicht zu, bevor er weiter nach hinten durch geht.

In Brixen angekommen, grüßt mich ein  kleingewachsener Mann Anfang 20 mit Bart, der auf dem Domplatz neben mir auf der Bank sitzt (bevor ich in die Redaktion gehe, lasse ich mich dort gern für einige Minuten nieder). Woher kenne ich den nochmal?? Ach ja, bei meiner letzten Umfrage für die Zeitung habe ich ihn gefragt, was er von der Sommerhitze hält - stimmt ja. Auf der Arbeit geht es nicht anders zu, als im Treiben auf der Straße: Meine Kolleginnen melden sich immer nur mit ihren Vornamen ("Hoila, hier isch die Evi von der Redaktion in Brixen") - egal ob Feuerwehr, Carabinieri oder Tourismusverein: Jeder kennt sie. Ebenso irritiert sind die Leute, wenn ich mich dafür am Telefon melde - weil ich eben  nicht  Margit 1 , Margit 2 oder Evi bin, die hier seit Jahren arbeiten. In der Express-Redaktion in Köln war das nie ein Thema. Aber da wurde auch nicht über die Jahreshauptversammlung vom ASV Schabs berichtet oder über die Südtiroler Jungbläser, die bald ein Konzert geben. 

Meine Kollegin Johanna nennt das "Meine kleine Welt", als ich letztens über die vermeintliche Irrelevanz mancher Meldungen hier schmunzeln muss. Ich finde, die Formulierung trifft es ganz gut - denn sie ist augenzwinkernd, wohlwollend und leicht spöttisch zu gleich. Hier ist eben wirklich alles etwas kleiner, familärer und ruhiger. Nach der Arbeit das selbe Spiel: Ich setze mich in meine Lieblingsbar "Platzl" - dort habe ich einen guten Blick auf die vorbeilaufenden Passanten, und irgendwie komme ich mir ein bisschen vor wie Bill Murray in "Täglich grüßt das Murmeltier" - mit dem einzigen Unterschied, dass das hier keine Hollywood-Fiktion ist. 

Wie jeden Tag kommt der grauhaarige George-Clooney-Verschnitt von rechts im schnellen Schritt vorbei gelaufen, nur um dann in der nächsten Straße wieder zu verschwinden. Am Tisch neben mir sitzt - same procedure - der Typ mit der Capi und den 90-er Sonnenbrille, der irgendwie aussieht, als sei er aus einem DJ-Bobo- Clip entsprungen. Und dann noch der Bürgermeister, der mich nett grüßt. Henriette Reker hat das noch nie getan, geschweige denn Jürgen Roters! Und das, obwohl ich beiden schon mal persönlich begegnet bin. 

Auch als ich am späteren Abend bei einem meiner ehemaligen Interviewpartner zum Essen eingeladen bin, fragt man mich: Und wo wohnst du? Als ich den besagten Familiennamen nenne, heißt es nur: "Ach die ! Die waren früher meine Nachbarn!" Mich wundert nichts mehr -  statistisch gesehen ist es sicherlich viel unwahrscheinlicher, dass man hier auf einen Fremden trifft. Es ist das totale Kontrastprogramm zu Köln.

Nicht umsonst sagt man, dass alles Vor- und Nachteile hat. Was spricht für die kleinstädtische Familienidylle? Was für die großstädtische Anonymität?

pro: Man ist niemals allein. Selbst wenn man mit niemandem verabredet ist, in den Brixner Lauben trifft man immer auf ein bekanntes Gesicht zum tratschen ("Ah, hoi, Letizia, was moasch du denn hia? Kimm doch mit a Kaffe trinken!")

contra: Man ist niemals allein. Wenn ich in Köln einen Ort suche, an dem mich keiner kennt, reicht es für gewöhnlich schon, auf die andere Rheinseite zu fahren. Nur wenn man wirklich Pech hat, sitzt beim ersten Date die ehemalige Englischlehrerin aus dem Gymnasium am Nebentisch (kommt leider auch vor). 

pro: Alles ist sehr transparent. Egal, ob das Komitee "Mühlbacher Marktfescht" ein neues Mitglied hat oder die Ausgaben zum Ausbau des Tourismusbüros um 500 Euro steigen - alles wird öffentlich gemacht. Bei uns stürzt derweilen das Kölner Stadtarchiv ein - oder die Polizei berichtet nach der Silvesternacht, das "alles ruhig" gewesen ist. 

contra: manches ist vielleicht etwas zu transparent: "Wenn du an einem Abend mit jemandem in der Disco rumgeknutscht hast, weiß es am nächsten Tag schon ganz Brixen - selbst wenn du dich wegen deinem eigenen Kater gar nicht mehr dran erinnern kannst", erzählt mir mein Nachbar. Auweia ! 

pro: Es gibt wenig Kriminalität, denn bei so wenig Menschen fasst man die Täter viel schneller. Mein Fahrrad kann ich auch mal mehrere Nächte in der Stadt stehen lassen - in Köln muss ich es dagegen mit 2 Schlössern sichern und nachts in den Keller stellen, von meiner Diebstahlversicherung will ich gar nicht erst anfangen. 

contra: Dafür passiert hier auch nichts wirklich Spannendes (auch wenn die Südtiroler das vielleicht anders sehen). Die Aufregung ist dafür umso größer, wenn dann mal 7 Flüchtlinge im Tal einquartiert werden sollen. Ein Kölner kann da nur müde lächeln - dort leben nämlich derzeit über 11 000. 

Letzten Endes ist es wohl schwer auszumachen, welches Modell mehr Lebensqualität mit sich bringt. "Das Beste ist das Mittelmaß aus beiden Extremen", soll Aristoteles gesagt haben. Ich persönlich spüre, dass mir die Stadt am Wochenende zu eng wird - aber dann kann ich immer noch nach Bozen flüchten. Ansonsten aber spüre ich: Die Kleinstadt macht mich innerlich ruhiger. Und das hat mir in Köln schon lange gefehlt. 

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