Uñt’ayata: 06.04.2018
Bei der Recherche zur Vorbereitung unserer langen Reise sind wir auf der Homepage von 'Reality Tours' gelandet. Hier werden doch tatsächlich Touren im Slum angeboten. Wir sind neugierig aber auch skeptisch. Wir haben nicht vor mit der Kamera bewaffnet in das Leben der Slumbewohner einzudringen. Wie sich herausstellt, handelt es sich jedoch bei 'Reality' um eine gemeinnützige Organisation, die viele soziale Projekte im Slum unterstützt und auch drei Community Center führt. Die Touren sollen zur Aufklärung beitragen und ein authentisches Bild vom Leben im Slum zeichnen. Der Großteil der Einnahmen fließt dabei direkt in die sozialen Projekte (Englisch- und Computerkurse, Tanzkurse und Schulen) der Schwesterorganisation 'Reality Gives'.
Wir sind nur zu fünft unterwegs, inklusive unseres Guides. Der junge Student lebt selbst in einem anderen Slum von Mumbai. Er weiß
also wovon er spricht und kennt sich auch in Dharavi gut aus. Auf Grund von fließend Strom und Wasser, sowie vielen Arbeitsplätzen ein 5-Sterne-Slum, wie er meint. Fotografieren ist ausdrücklich verboten, aus Respekt vor den Bewohnern und um ihr Privatleben nicht zu stören.
Per Fußgängerbrücke geht es über die Bahngleise. Auf der anderen Seite liegt nun Dharavi, der wohl bekannteste Slum in ganz Indien. Hier wurde einst der Hollywood Film 'Slumdog Millionaire' gedreht. Doch uns zeigt sich ein ganz anderes Bild als es der Film vermittelt...und eine neue Seite von Mumbai. Anstelle von 'Slumdogs' sehen wir viele hart arbeitende Menschen, zu unserer Verwunderung keinen einzigen Menschen, der bettelt - wie wir es von anderen Gegenden in Mumbai bereits kennen.
Unser Guide führt uns durch die Arbeiterviertel und einige Betriebe. Plastikrecycling ist ein wichtiger Industriezweig in Dharavi. Wir werden auf das Rooftop eines Betriebes geführt und blicken über die Wellblechdächer des Slums auf denen Unmengen von Plastikmüll nach dem Waschen gelagert werden. Hier oben wird uns das ganze Ausmaß von Dharavi bewusst - ein einzigartiges Mosaik aus Wohnhäusern und improvisierten Unterkünften, kleinen Fabriken, Tempeln, Moscheen und Kirchen...alles dicht auf dicht. Wieder unten angelangt sehen wir Menschen, die den sauberen Plastikschrott im Akkord nach Art und Farbe trennen. Anschließend wird dieser eingeschmolzen und zu Granulat verarbeitet, welches dann nach Außerhalb verkauft wird. So wird aus Müll Geld gemacht, anstatt diesen nur auf der Strasse zu verbrennen, wie in Indien üblich.
Wir gehen weiter in ein anderes Arbeiterviertel, das bei uns einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Hier werden alte Farbkanister ausgebeult und ausgebrannt, damit sich die Farbreste verflüchtigen und die Behälter wiederverwendet werden können. Die dabei entstehenden toxischen Dämpfe hängen schwer in der Luft. Die Männer arbeiten meist drinnen und ohne Atemschutzmaske, ihre durchschnittliche Lebenserwartung beträgt zwischen 40 und 50 Jahren, wie man uns sagt. Diese Menschen opfern sich sprichwörtlich auf, damit ihre Familien ein besseres Leben führen können.
Auf dem weiteren Weg treffen wir auf Menschen, die in ihren Vierteln Töpferwaren, Seifen, Rucksäcke, Lederwaren, ja sogar Handtaschen made in Dharavi herstellen. Wir gehen vorbei an Frauen, die auf dem Boden sitzend Papadums (hauchdünne und knusprige indische Brote) herstellen. Es geht vorbei an "Friseursalons", die aus nicht mehr bestehen als einem Spiegel an einer Mauer und einem Hocker für den Kunden, dessen Haare sogleich in einen der offenen Abwasserkanäle fallen, welche sich durch alle Strassen ziehen.
Schließlich gelangen wir zu den Wohnvierteln. Gut 1 mio Menschen leben hier auf engstem Raum. Unser Guide führt uns durch ein Labyrinth von kleinen Gassen, in denen immer nur einer nach dem anderen durchpasst und man sich ducken muss, um nicht an die offenen Stromkabel zu stoßen, die über unseren Köpfen baumeln. Die Enge ist bedrückend. Dennoch fühlen wir uns zu keinem Zeitpunkt unsicher hier in Dharavi. Die Leute wirken neugierig, offen und freundlich. Hier leben und schlafen ganze Familien oft in nur einem Raum zusammen. Nicht einmal Eingangstüren gibt es in diesem Teil von Dharavi, nur einfache Vorhänge, um ein Minimum an Privatssphäre zu gewährleisten.
Gegen Ende der Tour gelangen wir auf einen offenen Platz, auf dem viele Kinder ausgelassen Cricket spielen oder einfach nur herumtoben. Die Frauen sitzen am Rand und waschen ihre Wäsche auf der Strasse oder treffen sich hier zum plaudern. Auf der anderen Seite fließt ein großer Abwasserkanal vorbei, der fürchterlich stinkt und sich seinen Weg durch den Slum ins offene Meer bahnt.
Unsere Tour endet schließlich an einem der Community Center von 'Reality', wo wir einen kleinen Einblick in die Angebote und sozialen Projekte der Organisation bekommen. In der Nachbarschaft gibt es Schulen, viele Einkaufsmöglichkeiten und gut ausgebaute Strassen. Hier sieht es gar nicht so sehr nach einem Slum aus - zumindest nicht in der Art, wie wir es uns noch vor der Tour vorgestellt haben. Unser Bild vom Slum und seinen Bewohnern hat sich durch die Tour nachhaltig verändert und wir sind dankbar für diesen einmaligen Einblick in eine andere Welt.