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„Es sind die Berge“ – Die Suizidrate in Südtirol: Ein Erklärungsversuch

Veröffentlicht: 04.07.2017

Wer redet gerne über seine seelischen Wunden, über den Schatten, den er nicht mehr los wird, über die Ecke, die ihm fehlt? Und wer tut das auf einem Volksfest, bei dem es feucht fröhlich zugeht, bei dem man im Hintergrund aus den Lautsprechern mit typischer Almmusik beschallt wird und alles dran gesetzt wird, das man gut drauf ist? Und wer erzählt so etwas einer Person, die er nicht länger als eine halbe Stunde kennt?

Aber ich greife zu weit vor, ich sollte von vorne beginnen. Es ist einer meiner ersten Sonntage hier (ich habe diesen Beitrag länger zurückgehalten, weil ich mir lange unsicher war, ihn zu veröffentlichen. Letzten Endes habe ich mich dann doch dafür entschieden). Der Tag ist mir für gewöhnlich heilig, er ist meiner Familie gewidmet. Die ist aber ungefähr 800km von mir entfernt. Da ich aber nicht allein bleiben will, beschließe ich, mich einmal etwas abseits von Brixen umzusehen . Also  mache mich auf zur „Erlebniswelt Tirol von 1809“, nur halb aus Interesse, eher aber, weil es nicht weit entfernt ist. Dort wird unter anderem – ziemlich originalgetreu – der Freiheitskampf Andreas Hofers, dem Südtiroler Nationalhelden, gegen Napoleon dargestellt. Für 6 Euro Eintrittsgeld bekommt man inklusive: Männer in Trachten, Bier, Kinder in Trachten, Ponyreiten, Frauen in Trachten, halbe Hähnchen, Babys in Trachten, Blasmusik. Gut zwei Stunden dauert mein Fußmarsch nach Schabs, bereits nach fünf Minuten merke ich aber bereits: Es ist nicht mein Fall. Trotz der guten Inszenierung gefällt mir das „Krieg spielen“ nicht, es befremdet mich zu meiner eigenen Überraschung extrem. Auch die zwei Damen an meinem Tisch, beide mit weißen Häubchen auf dem Kopf (so mussten es wohl die Frauen um 1800 getragen haben) sind irgendwie unsympathisch. Sie schauen durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht da. Ein Anflug von Kölnweh kommt auf: „Zu Hause wäre man sofort ins Gespräch gekommen!“ denke ich mir. Vielleicht strahle ich aber auch einfach nur aus, dass ich alles hier blöd finde.

Da ich mittlerweile 7 „Kreuzer“ gegen teures Geld erworben hatte (es einfach beim Euro zu belassen wäre wohl zu unauthentisch gewesen), ist abhauen allerdings keine Option – vielleicht wird mich ein bisschen Wein zumindest gedanklich den napoleonischen Kriegen näher bringen. Ich schlürfte also Magdalener aus dem Plastikbecher (ein für Südtirol untypischer Stilbruch, noch ein Grund, das Fest nicht zu mögen!), als mich eine Frau Mitte 40 fragt, ob am Tisch noch ein Platz frei sei. Ich bejahe, bin aber irritiert. Warum, das will ich hier nicht schreiben. Ich möchte nicht, dass die betreffende Person von jemandem wiedererkannt wird.

Kurz nachdem sie sich mir gegenüber hingesetzt hat, lässt sich ihre Freundin neben ihr nieder, sie ist deutlich kleiner, rundlicher und hat dazu noch sehr traurige Augen. Ein Mann um die 60, der wohl auch zur Gruppe gehört, platziert sich zu meiner rechten. Irgendwie ein seltsames Trio, denke ich mir, versuche aber so zu tun als sei nichts, schaue demonstrativ mal in Richtung „Schlachtfeld“, mal zur Blaskapelle.

Die darauffolgenden Minuten erwische ich mich trotzdem dabei, wie ich immer wieder verstohlen zu der mysteriösen Frau von gegenüber schiele. Was ist sie wohl für eine Person? Auch sie scheint neugierig zu sein, was ich hier so allein mache, denn sie fragt: „Und woher kommst du?“ Nachdem ich stolz verkündet habe, aus Köln zu sein (bei Brauchtumsfesten anderer „Kulturen“ bricht bei mir häufig der eigene Lokalpatriotismus hervor), beginnt ein anregendes Gespräch zwischen mir und der einst Unbekannten – ihre Namen möchte ich ebenfalls nicht nennen. Die Konversation nimmt ihren Lauf, irgendwann fange ich wie üblich an, Südtirols schöne Landschaft anzupreisen und von der Lebensart zu schwärmen. Nach kurzer Zeit fällt sie mir ins Wort: „Du weißt aber schon, dass die Selbstmordrate hier sehr hoch ist?“ Ja, das weiß ich, gebe ich zurück und bin gleichzeitig überrascht, dass das Thema schon wieder zur Sprache kommt. Es scheint den Menschen durch das vermehrte Vorkommen offenbar sehr präsent zu sein. Ich möchte von ihr wissen, ob sie eine Erklärung dafür hat.

Sie überlegt nicht lange, und sagt: „Es sind die Berge. Im Winter engen sie einen wirklich ein.“ Dann fügt sie hinzu: „Hier leben sehr wenige Menschen. Jeder ist irgendwie allein. Oder hat zumindest das Gefühl, es zu sein.“ Das finde ich interessant, denn sie hat grade etwas sehr Wesentliches angesprochen: Zwischen allein sein und sich allein fühlen besteht ein grundlegender Unterschied. Bevor ich aber weiter darauf eingehen kann sagt sie: „Auch ich habe das versucht, weißt du?“ Überrascht bin ich nur über ihre Offenheit, nicht aber über die Tatsache an sich: Ihre bloße Präsenz zeugt schon von einer „Andersartigkeit“, zwar absolut nicht im negativen Sinne, aber ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen hier damit eher ihre Probleme haben. In einer Großstadt wie Berlin oder Köln würde sie sicher nicht auffallen, aber im konservativen Südtirol? Dass sie es also schwer gehabt haben muss, kann ich mir denken. Dann erzählt sie von ihrem Selbstmordversuch und davon, dass sie – Gott sei Dank – gefunden wurde. Es stimmt mich etwas traurig, diese Geschichte zu hören, andererseits bin ich nicht schockiert. Menschliche Abgründe gibt es viele. Nur will das in der Regel niemand hören, geschweige denn zugeben. Unsere Gesellschaft setzt sehr viel daran, den Menschen eine Utopie vom Glücklichsein aufzuzwängen, alles Schmerzhafte wird zwanghaft ausgeblendet. Meine Gesprächspartnerin jedenfalls scheint ihren eigene Schatten mittlerweile besser zu kennen, und so wie sie auf mich wirkt, hat sie einen Weg gefunden, ihren Dämonen nicht kampflos das Feld zu überlassen.

Nach unserem Gespräch frage ich mich erneut, was Menschen dazu bringt, ihrem Leben ein Ende zu setzen und warum das in diesem (Pseudo-)paradies Südtirol so häufig vorkommt. Sicherlich ist es das Gefühl, allein zu sein, getrennt von allem und jedem. Kaum etwas ist für Menschen unerträglicher, als soziale Wesen sind wir auf die Liebe, oder zumindest den bloßen Austausch mit anderen angewiesen. Aber ist man in einer Großstadt wie Köln wirklich weniger allein? Die Anonymität dort ist doch viel krasser als im beschaulichen Brixen. Ganz plausibel ist das für mich nicht. Ein weiterer Grund ist vielleicht der Faktor Licht, womit wir wieder bei den Bergen wären. So schön sie auch sind, an machen Stellen in Südtirol scheint im Winter kaum die Sonne. Es kommt nicht von ungefähr, das Dunkelheit metaphorisch immer für das Negative, für die Verzweiflung und Einsamkeit steht. Ein letzter Erklärungsversuch stammt von meiner Chefin in der Redaktion. Sie bezeichnet die Südtiroler als sehr ehrgeizige, zielstrebige und fleißige Menschen, die in den Leistungsgedanken stark verinnerlicht haben. Umso größer werden dadurch der Druck und die Angst zu versagen. Auch dieser Punkt scheint mir bemerkenswert, denn ich habe es ähnlich erlebt: Ob bei Terminen beim Sportverein oder in der Musikschule: Immer ging es um Preise, Titel und Erfolge, weniger um den Spaß an der Sache. So zumindest habe ich es hier empfunden.

Letztlich ist es wahrscheinlich eine komplexe Kombination aus vielen Faktoren. Ich jedenfalls bin gespannt, ob ich noch weitere so mutige und tapfere Menschen wie die mysteriöse Unbekannte treffen werde. 

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