Salam ya Amman
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"Prejudice"

Veröffentlicht: 15.11.2019

Donnerstag, 14. November

6:30 am. Ein weiterer Tag bei Tarabot. Heute alleine – Sophia besucht über das Wochenende eine Freundin in Jerusalem. Ich bin heute wieder etwas früher dran - laut unserer Tarabot-Kollegin Sara gibt es heute früh schon ein Bastel-Workshop für Kinder. Ich bin allerdings nicht überrascht, als um halb 9 noch keine Kinder zu sehen sind, anders als von Sara angekündigt. Sie kommen erst um 10. Glücklicherweise habe ich immer etwas zu tun, und nutze die Zeit dazwischen wie gewohnt zum arabisch lernen. 

Die Kinder sind heute außerdem nicht die einzigen Gäste, die wir erwarten. Man merkt es daran, dass Amer und Abu Hamza sich in Schale geworfen haben, sodass man sie kaum wiedererkennt: Hemd und Nadelstreifenanzug. Abu Hamza war außerdem beim Friseur und hat Kopfhaar und Bart einen neuen Schnitt verpasst. Wer genau die Gäste sind, kann mir immer noch niemand so wirklich sagen. Sie kommen aus einem teuren Hotel in Amman. Mehr Infos bekomme ich nicht.

Als ich also gerade zwischen den Kids sitze und mit ihnen Kronen aus Papptellern bastele, kommen immer wieder von Amer angeführte Besuchertrupps herein und rufen den Kindern übertrieben freundliche Begrüßungssätze entgegen. Die Kids lassen sich dadurch jedoch nicht aus dem Konzept bringen – sie scheinen es gewohnt zu sein, dass es immer mal wieder Besuch gibt. Als Amer den Besucher*innen dann kleine Säckchen in die Hand drückt, in denen aus Papierstreifen angefertigte Schlüsselanhänger sind, mit der Anmerkung, dass dies Geschenke von den Kindern für sie seien, muss ich kurz grinsen. Während sich die Gäste umschwänglich bei den Kindern bedanken, werfen die sich gegenseitig nur verwunderte Blicke zu. Kein Wunder – die Kinder haben mit den Schlüsselanhängern wirklich gar nichts zu tun. Batul, eine unserer Kolleginnen hier, hat sie letzte Woche zusammen mit einer Frauengruppe bei Tarabot angefertigt. Aber es klingt doch immer ein bisschen besser, wenn auch Kinder involviert sind.

Nachdem Gäste und Kinder wieder verschwunden sind, haben wir wie gewohnt eine lange Mittagspause und erwarten am Nachmittag dann den zweiten Schwung Kinder. Heute eine große Truppe, die zuerst mit einem Handpuppenspiel bei Laune gehalten wird, dann übernimmt Kemo wieder. Seine Spiele kommen einfach immer gut an.

Da heute nach dem Praktikum außer Gruppenarbeit für die Uni und ein wenig arabisch nicht mehr viel passiert, und ich mich mittlerweile wieder ein bisschen beruhigt habe, nun noch ein kurzer Nachtrag zu dem Workshop gestern in der Uni.

Wie schon erwähnt, ein Workshop zum Thema „Prejudice“, Vorurteile, geleitet von Prof. Northoff aus Deutschland. Da es Mittwoch ist, demnach Putz- und Waschtag, laufe ich nach unserem Praktikum zuerst noch nach Hause, um noch eine Waschmaschine anzuschmeißen. Ich komme also etwa eine halbe Stunde zu spät zum Workshop und muss mich erst einmal ein wenig orientieren – wir sind heute zusammen mit einer anderen Social Work Studi-Gruppe und daher etwa doppelt so viele wie sonst. Bevor ich in der Lage bin zu verstehen, was hier gerade passiert, kündigt Prof. Northoff auch schon an, dass er nun ein kleines Experiment mit uns vorhat. Es würde uns vielleicht ein bisschen seltsam vorkommen, sagt er, aber wir sollten ihm einfach vertrauen. Der Satz macht mich schon ein wenig skeptisch.

Wir stellen uns also alle wie von ihm gewünscht in die Mitte des Raumes. Wir sollen nun eine Reihe bilden, während er vor uns steht und uns anschaut. Wer von uns glaube, dass diese Situation etwas mit einem Vorurteil zu tun habe, fragt er uns nun, und notiert dann alle „Ja“- und alle „Nein“-Stimmen. Ich bin nach unserem Englischunterricht bei Tarabot und dem generell langen Tag nicht wirklich in der Laune für Experimente und verstehe gerade überhaupt nicht, was er uns damit sagen will. Er geht jetzt über zur nächsten Runde. Wir sollen uns in unserer Reihe nach Hautfarbe ordnen. Von hell nach dunkel.

Und ich bin raus. Direkt. Ich verlasse den Kreis in der Mitte und setzte mich wieder an meinen Platz. Mit schwachem Kopfschütteln beobachte ich, wie der Rest unserer Gruppe, sichtlich verwirrt zwar, dennoch versucht, diese Aufgabe zu erfüllen. Während Prof. Northoff wieder die Frage nach den Vorurteilen stellt, kann ich immer noch nicht glauben, welche Informationen meine Augen gerade an mein Gehirn weitergeben. Ich sehe, wie Clementina aus dem Südsudan und Nandini, deren Eltern aus Sri Lanka kommen, am Ende der langen Reihe stehen und frage mich, wie die beiden sich wohl gerade fühlen. Es folgt die nächste Runde. Zwei Gruppen sollen gebildet werden. Eine „helle“ und eine „dunkle“. 

Ich will mir diesen Albtraum wirklich nicht noch länger anschauen. Als ich gerade meine Sachen packe, setzt sich Lea zu mir, die das „Experiment“ nun auch beendet, und die Raummitte verlassen hat. Ich bin gerade nicht in der Lage, etwas zu sagen, aber beschließe, noch neben ihr zu bleiben, bis der Spuk beendet ist, um abzuwarten, was Prof. Northoff hierzu noch zu sagen hat.

Zunächst setzt er aber noch einen drauf. Ob es mit einem Vorurteil zu tun habe, wenn er sagen würde, dass die „dunkle“ Gruppe nun Geld bekommt, weil davon ausgegangen wird, dass diese Gruppe arm sei. Und ob es ein Vorurteil wäre, zu sagen, dass die Leute der „dunklen“ Gruppe kriminell seien. Mein Kopf bewegt sich unaufhörlich von rechts nach links. Und ich bin im Zwiespalt. Ich habe ihm SO viel zu sagen, aber eine derartige Wut in mir, dass ich das Gefühl habe, nicht auch nur ein Wort mit ihm wechseln zu wollen.

Er fängt nun an mit der Reflektion. Und ich weiß nicht, was mich an der Situation gerade am meisten schockt. Abgesehen von dem Experiment an sich fanden es offensichtlich viele Leute aus unserer Gruppe nicht ansatzweise so schlimm wie ich. Sie wüssten ja, dass sie hier in einer Uni sind und den Lehrkräften vertrauen können, und dass das hier eben Teil unserer akademischen Erfahrung sei. Und dass es manchmal schwierig sei zu beurteilen, wo Vorurteile anfangen und wo sie aufhören, was Herr Northoff zustimmend aufgreift. Ich kann es nicht mehr hören, dass immer noch das Wort „Vorurteil“ benutzt wird, wenn es ganz offensichtlich um Rassismus geht. Und kann jetzt nicht mehr still bleiben. Ich bin mir sicher, dass Herr Northoff meinem Gesicht schon ansehen kann, dass mein Kommentar anderer Art sein wird.

Ich sage ihm, dass all das hier nichts mit Vorurteilen zu tun hat, sondern mit Rassismus. Und der fängt an, sobald man anfängt, Leute nach ihrer Hautfarbe zu unterteilen. As simple as that. Nichts daran ist schwierig zu beurteilen. Kategorisieren nach Hautfarbe ist immer rassistisch, egal welche Attribute man welcher Kategorie zuordnet. Er unterbricht mich mit dem Kommentar, dass man das nicht so einfach sagen könne. In Deutschland gebe es ja mittlerweile auch syrische Fußballmanschaften, was ja ebenfalls eine Kategorisierung sei. 

Ich kann hier nicht mehr bleiben. Ich nehme meinen Rucksack und meinen Laptop und verlasse den Raum. Mir schießen tausend Gedanken durch den Kopf, als ich mich auf den Weg zum Manara-Bookshop in Weibdeh mache, um mich noch alleine ein wenig zu beruhigen. Ich kann wirklich nicht glauben, was dort eben in den Räumen einer Universität stattgefunden hat. Ich denke daran, wie oft ich mir anhören muss, dass ich mich mit meinen Ansichten übertreibe. Und immer alles zu genau nehme. Und zu politisch korrekt bin. Aber das nehme ich in Kauf. Weil man gar nicht korrekt genug sein kann, wenn es um Rassismus geht. Weil Rassismus keine Meinung ist. Und es nicht erst anfängt, wenn körperliche oder verbale Gewalt im Spiel ist. Es fängt in unseren Köpfen an. Damit, dass wir gedanklich einen Unterschied zwischen Menschen herstellen, den es nicht gibt. So, wie Herr Northoff es eben getan hat. Und es gibt keine Worte, mit denen ich meinen Frust ausdrücken kann, darüber, dass ich wirklich immer meinen Kopf für Anti-Rassismus hinhalte, um dann in einem akademischen Umfeld so etwas wie heute zu erleben.

Im Manara beschäftige ich mich mit meinem Laptop und komme ein wenig zur Ruhe. Es erreicht mich eine Sprachnachricht von Sophia. Sie hat bis zum Ende des Workshops durchgehalten uns sagt mir jetzt, dass sie am Ende noch ihre Stimme erhoben hat, um Herrn Northoff ihre Meinung zu sagen. Ich bin beruhigt zu hören, dass sie getan hat, wozu ich nicht mehr in der Lage war. Sie hat ihm empfohlen, seine Methode zu überdenken, und eine alternative Art und Weise zu finden, seine Botschaft zu übermitteln, ohne dabei die Menschenwürde von Leuten zu verletzen, die im Workshop anwesend sind. Seine Reaktion: er sei davon ausgegangen, dass wir in einem Masterprogramm professionell genug sind, um mit einer solchen Situation umzugehen. 

Ich habe dafür keine Worte. Wenn jemand in diesem Workshop nicht professionell war, war er es. Und ich bin es leid, darüber zu diskutieren, ob man für akademische Zwecke riskieren darf, die Würde von Menschen zu verletzen. Die Antwort darauf ist nein. Einfach immer nein.


Antworten (1)

Hannah
<3 حبیب